Ansicht umschalten
Avatar von Jens Niestroj
  • Jens Niestroj

131 Beiträge seit 23.07.2023

Es wäre an der Zeit

Da man mich immer wieder fragt: "Was ist zu tun?", fange ich mit einigen Negativvorschlägen an. Als erstes darf man dem "Sollte", "Müsste", und "Sich an die Stirnschlagen" nicht in die Falle gehen. Anzunehmen, man bräuchte eine Veränderung nur zu erklären, damit sie angenommen werde, weil sie schließlich zu Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden beitrüge, ist die traurigste und ärgerlichste Form der Naivität. Viele gute und ansonsten intelligente Menschen scheinen zu glauben, wenn mächtige Leute und Institutionen den Ernst einer Krise und die Notwendigkeit der Abhilfe erst einmal richtig verstanden hätten, würden sie sich an die Stirn schlagen und zugeben, sich die ganze Zeit geirrt zu haben, und wie durch eine plötzliche Offenbarung sofort eine Kehrtwende in ihrem Verhalten einleiten.
Einiges ist zwar Ignoranz und Dummheit zuzuschreiben, aber das meiste geschieht, weil die Mächtigen es genau so wollen.

Susan George

Militärisches hat einen immer höheren Stellenwert, Aufrüstung wird als notwendig propagiert, sogenannte „Abschreckung“ ist das mit überwältigender Mehrheit in den Medien dargestellte allein erfolgversprechende Modell,
Warum?

Wie wäre es mit diesem Ansatz:
Die „Eliten“ im Westen merken, dass unser System alles andere, als stabil ist.
Unsere Wirtschaftsideologie mit seinem grenzenlosem Wachstumszwang ist angesichts einer begrenzten Welt bei Lichte betrachtet nur lächerlich (aber eben auch sehr gefährlich). Die Tatsache, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, lässt sich trotz medialer Oberhoheit immer schwieriger verbrämen. Joseph Stiglitz hat schon vor etwa 20 Jahren geschrieben:

Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, in der der Materialismus über moralische Bindungen obsiegte, in der das Wachstum, das wir erreicht haben, weder ökologisch nachhaltig, noch gesellschaftlich tragfähig ist, … unter anderem weil ein radikaler Individualismus und Marktfundamentalismus jeglichen Gemeinschaftssinn unterhöhlt [und] zu einer rücksichtslosen Ausbeutung unvorsichtiger und ungeschützter Menschen und zu einer stetig wachsenden sozialen Spaltung geführt hat.

Es sei daran erinnert: Ein König ist nicht deshalb ein König, weil Gott ihn eingesetzt hat, sondern weil ein wesentlicher Teil der Bevölkerung glaubt, er sei der König. Glaubt diese es nicht mehr, gibt es auch keinen König mehr. Dies gilt auch für unsere Wirtschaftsordnung.

Jedes Herrschaftssystem muss über eine glaubwürdige Geschichte / Ideologie verfügen. Diese muss keinesfalls wahr oder in sich schlüssig sein, sie darf aber nicht offensichtlich unwahr oder offensichtlich unschlüssig sein. Und die Geschichte / Ideologie muss in der Lage sein, auch auf neue Fragen Antworten zu geben. Sind diese nicht möglich, wird seitens der Herrschenden abgelenkt. Jean Paul Marat sagte vor über 200 Jahren:

Die Meinung gründet sich auf der Ignoranz und die Ignoranz fördert außerordentlich den Despotismus. ...
Nur wenige Menschen haben gesunde Vorstellungen von den Dingen. Die meisten klammern sich blos an Wörter. ...
Von den Wörtern getäuscht, verabscheuen die Menschen die abscheulichsten, mit schönen Wörtern geschmückte Dinge nicht, und sie verabscheuen die löblichsten Dinge, die als hässlich verschrien sind.
Deshalb besteht der gewöhnliche Kunstgriff der Kabinette darin, die Völker in die Irre zu führen, indem sie Wörter pervertieren.

Wenn abgelenkt werden muss, fangen aber die Probleme an. Harmlos ist es da noch, wenn Scheindiskussionen über das neue iPhone, über Fußball etc. geführt werden. Oder – ebenfalls nicht gegen eine andere Gruppe gerichtet - indem viele kleine Einzelinteressen definiert werden, die die Kraft von vielen binden, ohne dass grundlegende Diskussionen über das Wirtschaftssystem oder die Formen der politischen Teilhabe der Bevölkerung geführt werden.

Ablenkung kann aber auch bedeuten, dass ein äußerer Feind gefunden und äußerstenfalls ein Krieg begonnen wird. Oder indem eine innere Minderheit als Feind erklärt wird. Beides erleben wir. Iran und Russland sind „Feinde“ gegen die militärisch aufgerüstet werden muss. Dass als Kollateralnutzen für die Schaffung / Definition von äußeren Feinden Geld und Ressourcen in die Rüstung gepumpt werden, wird von den Eliten gerne mitgenommen.

Als Gegenentwurf möchte ich auf Arundhati Roy verweisen:

In Zeiten, in denen Opportunismus alles ist, in denen es keine Hoffnung zu geben scheint, in denen alles zu einem zynischen Geschäft reduziert wird, müssen wir wieder den Mut finden, zu träumen und die Phantasie zurückzufordern.
Das Träumen von Gerechtigkeit, von Würde, von Freiheit. Für jeden. ...
Wir müssen verstehen, wie die gute alte Maschine funktioniert, für wen und gegen wen sie arbeitet. Wer bezahlt und wer profitiert.

Bewerten
- +
Ansicht umschalten