wa schrieb am 06.09.2024 20:49:
Aus dem Artikel:
Ein solcher Kompromissfrieden wäre sehr weit von dem entfernt, was sich die ukrainische und die westliche Regierung erhoffen. Er wäre auch weit entfernt von dem, was Putin sich erhoffte, als er im Februar 2022 diesen Krieg begann.
Was war es, was Putin sich erhofft hatte ? Der Artikel legt die Absicht nahe, die ganze Ukraine einzunehmen, stellt aber auch fest, dass dafuer eine wesentlich groessere Armee noetig waere.
Nicht nur der Artikel. Die russischen Kriegsziele sind immer noch "Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, Befreiung des Donbas". Auf Nachfrage, was denn unter "Nazis" bzw. der "Entnazifizierung" der Ukraine zu verstehen sei wurde russischen Reportern dargelegt, dass die "ukrainisierung" und die Verdrängung alles Russischen gemeint sei, die die "Nazis" in der Ukraine seit 2014 betrieben hätten.
Schaut man sich die Geschichte der Ukraine seit 1991 an, dann fällt aber auf dass schon damals Ukrainisch als Nationalsprache festgelegt worden war - also muss das mit dem "Nazismus" scheinbar schon früher losgegangen sein...
Schaut man sich Berichte aus den ersten Tagen des Überfalls 2022 an, dann war wohl ursprünglich auch geplant, dass weißrussische Truppen an dem Überfall teilnehmen sollten - deren Aufgabe wäre gewesen, die Landesteile weiter im Westen zu besetzen und mindestens die Verbindung zwischen Lwiw und Kiew zu unterbrechen. Wegen Befürchtungen, dass es zu Meuterei der Weißrussen kommen könnte gab aber die Regierung in Minsk nach Warnungen aus deren Oberkommando keinen Angriffsbefehl.
Es ist also nicht nur dieser Artikel der das nahelegt, auch andere Elemente.
Eine "Entnazifizierung" würde aus russischer Sicht mindestens das Absetzen der jetzigen, ukrainischen Regierung erfordern. Das immer wieder von Russland gefordertere "Ende der Unterdrückung der russischen Sprache" würde sich de Facto als ein verstärker Zwang darstellen, Russisch mindestens wieder als Landessprache zu definieren und an allen Schulen zu lehren - wenn damit nicht auch der Zwang verbunden wäre die "russische" Sichtweise der Geschichte zu erzählen (egal wie objektiv sie wäre).
Für einen aus Sicht der jetzigen, russischen Regierung akzeptablen Frieden will Russland denke ich ein mindestmaß an politischer Kontrolle über Kiew behalten.
Man darf nicht vergessen, dass vermutlich auch heute noch die größte russischsprachige Gruppe außerhalb der russischen Föderation einen ukrainischen Pass hat. Ein großes Ziel des Krieges seit 2014 war mit Sicherheit, diese Menschen "heim ins (russische) Reich" zu holen.
Groesser als das, was Russland ohne einen einschneidenden Kurswechsel ueberhaupt aufbringen koennte, und erst recht viel groesser als das, was 2022 losgeschickt wurde.
Aus heutiger Sicht kann man das im Westen so sagen. In Russland könntest Du für einen solchen Satz wegen "Verunglimpfung des Militärs" ins Gefängnis kommen.
Mir war schon 2022 klar, dass das katastrophal schief gehen würde - nach den jahrelangen Scharmützeln im Donbass hatte sich die ukrainische Armee schon auf das gefasst gemacht, was da auf sie zukommen würde. Die Russen haben den Ukrainern viel Zeit zum Üben gegeben...
(habe hier dann Teile vom Posting weggeschnippelt)
Aber was erhoffte sich Putin nun ? Ich vermute, er koennte sich eine Wiederholung des Feldzugs in Georgien gewuenscht haben: eine gewaltsame Befriedung der umstrittenen Provinzen, das Schaffen der politischen Rahmenbedingungen, um eine Rueckkehr zu buergerkriegsartigen Zustaenden zu verhindern, und die Regierung von ihren NATO-Plaenen abbringen.
Allerdings ist mir nicht klar, wie Russland die Prioritaeten zwischen dem Vermeiden einer weiteren NATO-Ostexpansion und der Sicherung der "russischen" Provinzen setzt. Im Westen sehen wir eher die NATO-Ostexpansion im Vordergrund. Aber in Georgien wird inzwischen wieder laut ueber einen moeglichen NATO-Beitritt nachgedacht, und Russland scheint das ueberraschenderweise nicht mehr sonderlich zu stoeren. Koennte es also sein, dass fuer Moskau das Hauptziel die "russischen" Provinzen sind, und man die NATO dulden wuerde, solange sie dem nicht im Weg steht, so wie man den NATO-Beitritt der baltischen Staaten auch nicht gewaltsam zu verhindern suchte ?
- Werner
Mittlerweile sollte jedem klar sein, dass Putin nicht unbedingt in Mustern denkt. Analysiert man die verschiedenen Vorgänge im Bereich der ehemaligen Sowjetrepubliken und auch darüber hinaus, zeigt sich immer wieder dass von russischer Seite viel strategisches Handeln dabei ist. Es werden Kriesen verstärkt, wo man Unzufriedenheit findet und nachher versucht, daraus Kapital zu schlagen.
Für den Ukraine-Krieg kann man erst mal annehmen, dass Putin bislang noch hofft, dass sich die politische Lage in den USA nicht noch ungünstiger für ihn entwickelt. Er rechnet nach wie vor nicht damit, dass westliche Truppen in der Ukraine auftauchen werden, also muss er nur versuchen, dass er die Ukraine weiter schädigen kann, bis die Ukrainer irgendwann in ihrem Widerstand nachlassen. Westeuropa hat er ja schon fast im Sack, zwar werden immer noch Waffen geliefert und es gibt Zusagen für weitere Unterstützung, aber alle Bestände aus dem Kalten Krieg sind jetzt weg und alles was ab 2025 noch in die Ukraine kommen soll muss (langsam!) neu gebaut und teuer bezahlt werden.
Die Ukraine weiß das aber auch und versucht daher seit über einem Jahr, mit strategischen Angriffen die russische (Kriegs-)Wirtschaft zu lähmen. Hier aus dem Westen kann man die Wirkung nur relativ grob einschätzen, aber es kann dazu führen, dass Russland in einigen Monaten noch mehr Probleme als bisher bekommt, ausreichend Material an die Front zu schaffen.