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  • EvodurchKoop

133 Beiträge seit 09.10.2021

Nietzsche legitimiert Naturdeterminismus, Geniekult und Herrenmenschentum

Zweifellos erhellt Rehmanns Analyse bedeutende Zusammenhänge zwischen Nietzsches raffiniertem Antisemitismus und Hass auf das Christentum als Reprä¬sentant der unteren „plebejischen“ Klassen, beides verknüpft im „jüdischen Instinkt“ und Nietzsches präfaschistischer Vision eines künftigen „Übermenschen“. Mit einem Willen zur Macht und als kleine Elite setzt sich dieser Übermensch durch, denunziert die Werte der Aufklärung, einschließlich der menschlichen Vernunft, als Schutz¬schirm der schwachen „Sklavenmenschen“ und verneint damit die individuelle Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowie die Vernunft als Fähigkeit zum Bedenken von Alternativen als mögliche Prinzipien eines allgemeinmenschlichen Fortschritts.
Aber was bildet bei Nietzsche und vermutlich auch bei Foucault den Hinter¬grund für die Destruktion des Gleichheits- und Solidaritätsprinzips und der Überzeugungskraft von Tatsachenwahrheiten sowie der menschlichen Vernunft als Voraussetzungen einer humaneren und naturgerechteren Gestaltung gesellschaft¬licher Verhältnisse?
Das ist offenbar aus marxistischer – d.h. ökonomisch-monistischer – Sicht von Macht nicht angemessen zu beantworten, sonst hätte Rehmann nicht vermutet, dass Foucault wie Nietzsche
„Macht .. hinter den gesellschaftlichen Verhältnissen verorte(n), statt sie konkret in ihnen aufzusuchen“.
Diese Auffassung ist schwer zu teilen und nur mit einer spezifischen Vor¬stellung „gesellschaftlicher Verhältnisse“ zu erklären, die es Marxisten nicht erlaubt, das bei Nietzsche ganz grundlegend andere, aber für die konkreten gesellschaft¬lichen Lebensumstände der Menschen nicht minder bestimmende Verhältnis des Menschen zur Natur insgesamt wie auch zu seiner eigenen in den Blick zu nehmen: Nietzsche hat viele Quellen verarbeitet, aber vor allem eine, die für sein ganzes Denken bestimmend wurde, nämlich Darwins Evolutionstheorie in seinen beiden, die Arten allgemein und den Menschen im besonderen betref¬fen¬den, Versionen.
Was besagt die Evolutionstheorie? Nicht nur, dass der Mensch letztlich aus der Natur kommt, was bereits Aristoteles annahm, sondern dass auch die Entwick¬lung des Menschen letztlich den natürlichen Prinzipien der zufälligen Variation (später als Folge von Mutationen erkannt) und des Überlebens qua Durchset¬zung im Überlebenskampf folgt und dadurch auf die Fortpflanzung der, biologisch entstandenen, passendsten Variante (was immer das einschließt) angewiesen ist. Unter dem Determinismus natürlicher Faktoren - dem Zufall und der unterschiedlichen Tüchtigkeit natürlicher Varianten - erscheinen die menschliche Kultur und das vernünftige Bedenken von Handlungsalternativen letztlich als Bremser der biologischen Evolution (was heute gut in der Blindheit der Gentechnik¬-Befür¬wor¬ter für die ökologischen und wirtschaftlichen Schadensfolgen gentechnisch veränderter Organismen zu beobachten ist).
Sogar noch radikaler als Darwin, der in der sozialen Intelligenz des Menschen, seinem Zusammenhalt und seiner Bereitschaft sich für die Gemeinschaft zu opfern, einen - selbst durch die Auslese verstärkten - Überlebensvorteil anerkennt, will Nietzsche genau dies nicht als Vorteil sehen, weil dies nur zu einem dekadenten Mittelmaß führen würde: Die Ausnahmeerscheinungen unter den natürlichen Variationen würden sich nicht durchsetzen können, wenn sie nicht einen besonderen „Willen zur Macht“ entfalten würden, mit dem sie auch ihre spezifische Moral des Überlebens, die ihnen maximalen Nutzen bringt, durchzusetzen in der Lage wären.
Dies ist die Philosophie des „Übermenschen“, die auf das zufällige Glück von Ausnahmeerscheinungen spekuliert, die als besonders kreative Individuen und Völker ihre neuen übermenschlichen Maßstäbe als neue Moral in den Völkern und im internationalen Verkehr durchsetzen können, wenn dem Zufall be¬wusst und gezielt durch Zucht und Züchtung (z.B. die Verheiratung von Adels¬geschlechtern mit reichen Juden) auf die Sprünge geholfen wird. Nietzsche verleugnet also fundamental die gesamtnatürlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzung als Voraussetzungen für die Entfaltung eines jeden Menschen, auch der Entfaltung der angeblichen Ausnahmeerscheinungen. Mit anderen Worten: Nietzsche erlaubt, ja fordert sogar, sich mit „fremden Federn zu schmücken“ um sich durchsetzen zu können – nichts anderes tut Nietzsche selbst in seinen Aphorismen, in denen kaum eine der zahlreich verarbeiteten Quellen zitiert ist.
Die ersten „Früchte“ dieses, vom Darwinismus als naturwissenschaftlicher Theorie und von Nietzsches Aphorismen kulturell legitimierten Chauvinismus, Rassismus und Kampf der Völker um Vorherrschaft, zeigt die Geschichte in den Kolonialmassakern und den beiden Weltkriegen.
Die neuen Versuche der nationalen und weltweiten Durchsetzung einer Eliten-Moral gegenüber den Grundsätzen von Demokratie und der internationalen Organisationen mittels eigener „Ordnungen“ der Starken, mittels ausbeuterischem Handel, manipulativen Dogmen, Aufrüstung und Streben nach Expansion, können wir heute überall beobachten, auch in den kaum kaschierten rigorosen Aufrüstungsplänen der bevorstehenden Ampelkoalition, die keinen anderen Sinn haben können als eine kriegerische Expansion für Ressourcen, die man nicht hat, aber zum weiteren – angeblich klimaneutralen – Wachsen benötigt.
Es ist ein spezifisches Verständnis des Mensch-Naturverhältnisses, als Verhältnis der zufälligen Geworfenheit des Menschen in ein Chaos aus nicht erkennbaren Naturgesetzen, das Darwin und schließlich auch Nietzsche dazu benützten, um der sich in den Industriegesellschaften Englands und Deutschlands profilierenden Elite zwingende naturalistische Argumente zur Abwehr sozialer und freiheitlicher Ansprüche der Subjekte der Aufklärung sowie anderer Völker einerseits und zur rigorosen Ausbeutung der Natur andererseits an die Hand zu geben.
Angesichts von Klimawandel und Artensterben heute stellt sich vor allem die Frage, warum Nietzsche mit seiner Bezweiflung einer soliden Basis für objek¬tive Wahrheit und seiner Verve gegen den freien, vernunftgeleiteten Willen wieder so gefragt ist? Und warum der Marxismus Schwierigkeiten hat den gleichfalls dialektisch-materialistisch konzipierten Darwinismus , der jegliches Zugeständnis an die ökologisch-ganzheitliche Verfaßtheit der Natur und die darin enthaltenen Symbiosen zwischen den Arten und Völkern ablehnt, als Hintergrund Nietzscheanischer Zucht-, Züchtungs- und Wille-zur-Macht-Chauvinismen zu demaskieren, aber dann doch die Ausbeutung der Natur, den Klimawandel und die Vernichtung der Biodiversität beklagt!
Die modernen Nachfolger von Nietzsche (Harari u.v.a. ) haben mit ihrem Denken und ihren Argumenten längst damit begonnen, die Vorherrschaft der Eliten mit ihren neuen verbrauchsintensiven, auf Kontrolle, Überwachung und ferngesteuerte Vernichtung von Gegnern getrimm¬ten Technologien zu legitimieren: Wiederum im Sinne von Darwins Zufall und Auslese im angeblichen Chaos der Natur und Nietzsches Durchsetzung mittels einer überlegenen Moral, die man der Welt aufzuzwingen in der Lage ist: Denn was sind die vom Westen hochgehaltenen Begriffe der neuen „regelbasierten Weltordnung“, der angeblichen Ressourcenschonung durch „Nachhaltigkeit“ und einer angeblich durch „Emissionshandel“ erreichbaren „Klimaneutralität“ anderes als Moral-Begriffe, mit der die westlichen Industriestaaten ihre Überlegenheit und Durchsetzungsmacht gegenüber schwächeren Ländern neu, angeblich natur-, klima- und menschenfreundlich exekutieren wollen um ihren ungleich höheren Bedarf an Ressourcen weiterhin befriedigen zu können?
Es geht heute nicht nur um den „stummen Zwang der ökonomischen Verhält¬nisse“, der die Menschheit auf den Plan ruft, um die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm zu vermindern, sondern genauso um das freiheitlich gesinnte -um die natürlichen Lebensgrundlagen aller Menschen besorgte - Subjekt der Aufklärung, das endlich aus dem Zwang zur Arbeit für andere befreit werden muss, damit der stumme ökonomische Zwang der Naturvernichtung durch Arbeitskräfte, denen nichts anderes übrigbleibt als sich aus Gründen der Selbsterhaltung an der Naturzerstörung zu beteiligen, endlich beendet wird. Nietzsche hätte dem massiv widersprochen, weil er in der durchsetzungsstarken Übermenschen-Elite das einzige legitime Kraftzentrum sah, mit der sich die Natur durch Auslese selbst seine Evolution verschafft – jenseits der als widernatürliche und schwache Kraft denunzierten Vernunft, die in der Aufklärung des 18. Jhdts. erstmals die enge Verbindung zwischen einer ganzheitlichen, alle Menschen einschließende, Auffassung der Natur und den Menschenrechten der individuellen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Blick und den Bereich menschlicher Gestaltungmacht rückte. Genau dieses ganzheitlich-systemische Verständnis der Natur sowie der Interdependenzen zwischen den Menschen und den Völkern können aber weder der Wirtschaftsliberalismus und Darwinis¬mus noch der Marxismus akzeptieren, da sie alle die rigorose Naturausbeutung als Basis ihrer Wachstumsutopien benötigen. Daher ist es keinesfalls überraschend, dass Nietzsche sogar von den Vertretern der Frankfurter Schule, Horkheimer und Adorno, als „Vollender der Aufklärung“ bezeichnet wurde und nicht, was angemessener gewesen wäre, als deren Gegner und Beender.

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