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  • Ho Tsen Plots

mehr als 1000 Beiträge seit 25.09.2016

Methodisch und sprachlich ungenügend, Conclusio falsch

Als erstes stört mich, dass der Autor ständig von "wir" schreibt, obwohl er als alleiniger Verfasser angegeben ist, also nicht Roth et al. (lat. et alii - und andere).

Methodisch hapert es bei dem Artikel gewaltig, wie schon Mathematiker kritisiert hat.
Beispielsweise kann die Auswahl der Schlüsselbegriffe für Wissenschaft (Wissenschaft +System +Theorie +Philosophie +Wahrheit) allenfalls die Häufigkeit des Schreibens über Wissenschaft, z. B. in Form von Wissenschaftstheorie, darstellen, aber nicht die Bedeutung und Häufigkeit wissenschaftlicher Arbeiten für die Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum abbilden.

Noch ein Gegenbeispiel:
Würde man die Häufigkeit von Begriffen aus der Gender-Pseudowissenschaft in Publikationen über die letzten Jahrzehnte darstellen, z. B. "das Geschlecht als soziales Konstrukt", hätte man einen enormen Anstieg der Häufigkeitskurven, obwohl die Bedeutung für die Gesellschaft nahezu Null ist.

Die Methodik, mit der der Autor versucht, "der Größe der Erzählung angemessen" die Vergangenheit der letzten 200 Jahre im deutschsprachigen Raum anhand von Themenfeldern abzubilden, ist in meinen Augen ungenügend.

Hinzu kommen sprachliche Ungenauigkeiten und Fehlschlüsse, die eine mangelnde Stringenz im Denken des Verfassers nahelegen.

Hier ein paar Beispiele:

...und so Gefahr laufen, mit den richtigen Lösungsansätzen auf die falschen Problemlagen zu reagieren.

Was sind "falsche Problemlagen"? Hier ist möglicherweise gemeint, dass nicht die Problemlagen falsch, sondern die Lösungsansätze für diese ungeeignet sind.

Im Folgenden illustrieren wir das an jenem Allgemeinplatz, auf dem wir in einer post-/kapitalistischen Gesellschaft leben oder gelebt haben.

Auf Allgemeinplätzen kann man nicht leben oder gelebt haben.
Es wäre höchstens als Allgemeinplatz zu bezeichnen, dass oder demzufolge wir in einer post-/kapitalistischen Gesellschaft leben oder gelebt haben.

...wie sie glücklicher Weise im Fall des Google Books Projektes und des Google Ngram Viewers vorliegen.

Oh du glücklicher Weise auf dem Pfad der Erkenntnis, dessen niedere Stufen der Autor gerade dabei ist, zu erklimmen!

...im Kontext einer retroaktiven Big-Data-Anales...

Ein Freudscher Verschreiber, etwa im Sinne von "Du kannst dir die ganze Big-Data-Analyse genausogut hinten reinschieben"?

Für das 19. Jahrhundert beobachten wir eine intensive Interaktion von Religion, Recht, Politik und Wissenschaft (vgl. Abb. 2.1).

Das Diagramm zeigt die Häufigkeit der vom Autor für die Themenfelder ausgewählten Schlüsselbegriffe, aber keine Interaktion.

...Auswirkungen des global unterstellten Kapitalismus...

Aha, der Kapitalismus existiert vielleicht gar nicht, sondern wird nur "global unterstellt"?
Weiter unten schreibt der Autor sogar vom "imaginären Kapitalismus".

Nun zu der Schlussfolgerung des Autors, die aus meiner Sicht nicht nur problematisch, sondern falsch ist, worauf der Nutzer Jian schon hingewiesen hat:

Gerade wenn man also der Meinung ist, dass Ökonomisierung und Kapitalismus das Problem sind, sollte man in Zukunft vielleicht bewusst verzichten auf sein gutes Recht seine gute Meinung zu äussern. Nicht aus Angst vor Repression. Sondern aus der Einsicht heraus, dass selbst der intellektuell schärfste Problemfokus nicht mehr vermag als das Problem zu verschärfen (Roth, 2015), dass auch negative Kritik den Kritikgegenstand popularisiert, und dass gut gemeint somit tatsächlich das Gegenteil von gut gemacht ist.

Das ist ein Aufruf zu bewusster und freiwilliger Selbstkastration, indem ich mich der Fokussierung auf ein reales Problem verweigere, um es nicht zu "popularisieren", anstatt die Ursachen dieses Problems zu untersuchen und mögliche Lösungsansätze zu finden.

Oder wie es Jian geschrieben hat:

Aber

aus der Einsicht heraus, dass selbst der intellektuell schärfste Problemfokus nicht mehr vermag als das Problem zu verschärfen

sollte ich vielleicht die Klappe halten und wie alle anderen auch tunlichst vermeiden, statt dessen nach einer Lösung des Problems zu suchen, denn sonst wird ja alles nur noch schlimmer.
Oder?

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