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  • Leser2015

476 Beiträge seit 19.11.2015

Re: Katastrophen in Zeitlupe

ALomax schrieb am 07.05.2020 02:46:

Aus meiner Sicht ein Irrtum, denn wie ließe sich "Corona als disruptiver einstufen" (ALomax), gerade wenn doch AIDS so sehr "die Gesellschaft verändert hat.

Weil nicht jede Veränderung eine Disruption darstellt. AIDs war eher Auslöser einer längerfristigen Entwicklung, ohne jemals auch nur ein Teilsystem abrupt zusammenbrechen zu lassen.

Trotzdem ist HIV trotz mittlerweile guter Therapiemöglichkeiten bis heute das weitaus gefährlichere Virus, denn gesunden wird man nach derzeitigem Stand niemals mehr, sondern muss psychisch mit einer chronischen und nach wie vor potentiell tödlichen Erkrankung lebenslang klarkommen,

Nun ja, genauso könnte man auch Diabetes beschreiben. Eine lebenslange, potenziell tödliche Krankheit - die halt zum Alltag wird, wenn man damit klarkommen kann. Ich sehe die graduellen Unterschiede, aber die liegen eher auf Seiten der Betroffenen als in der Wirkung aufs Gesundheitssystem. AIDs ist kein Systemsprenger mehr - und war es nie in dem Maße wie Corona.

... gezielter Propaganda!

Und da sind wir wieder bei einer der Formulierungen, die die Grenze zur Verschwörungstheorie überschreitet. Weil sie halt die beobachtbaren Fakten ignoriert. Und die Fakten sind in diesem Fall regional mehr Tote, als man auch nur unterbringen, geschweige denn regulär bestatten könnte. Tote, die sich auf Gängen und Straßen stapeln, sind ein Phänomen, ab dem man über die Besonderheit einer Bedrohung nicht mehr diskutieren muss und das sich nicht mehr als "Propaganda" beschreiben lässt.
Die Krankheit hat damit auch jenseits rein statistischer Prognosen bewiesen, wie schnell und drastisch sie entgleisen kann, wenn man nur kurz einen Fehler macht. Was für Fehler das sind und waren, und wo die speziellen Ursachen liegen, dass beispielsweise Italien (und stellenweise Spanien, und auch New York) so die Kontrolle verloren haben, während das in anderen Ländern nicht passiert ist, darüber sollte man diskutieren.
Aber ein Verweis auf "spezielle italienische Verhältnisse" und ein schlechtes Gesundheitssystem dort taugt halt nicht mehr dazu, Corona zu verharmlosen, denn es ändert nichts an der Tatsache, dass erst Corona diese lokalen Gesundheitssysteme zusammenbrechen ließ und Bilder lieferte, die man in all den Jahrzehnten davor allenfalls nach Naturkatastrophen oder Großunfällen zu sehen bekam. Wir haben also Empirie, die zeigt, dass Corona eine größere Belastung fürs Gesundheitssystem darstellt als jede andere Krankheit der letzten Jahrzehnte - und gegen Empirie anzutheoretisieren, anstatt seine Theorien an der Empirie zu messen, verlässt den Boden wissenschaftlichen Denkens und dessen, was noch ernsthaft diskutabel ist.

Btw sollte man auch nicht blind dafür sein, wie dicht Deutschland an der Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Wenn man die Zahlen verfolgt, sollte auffallen, wie gut Deutschland bei den Opferzahlen lange dastand - bis die Toten plötzlich in den letzten zwei Wochen der Osterferien drastisch in die Höhe schnellten und sich mittlerweile auf gutem internationalen Durchschnitt eingependelt haben. In meinen Augen kein Zufall, denn aus den Berichten von Ärzten aus meinen Bekanntenkreis nach war schon deutlich geworden, wie auch bei uns zumindest lokal Kliniken an den Belastungsgrenzen angelangt waren. Und die Letalität hängt nun mal extrem an der Versorgung.
Anstatt also rumzutrumpen und Corona als "italienische Krankheit" einzustufen, nur weil uns das erspart blieb, sollten wir lieber froh sein, dass hier in Deutschland kurz vor knapp die Notbremse gezogen wurde und der Höhepunkt bei den Neuerkrankungen tatsächlich schon überschritten war, als die Letalität in die Höhe schnellte, so dass nicht ein exponentiell wachsender Zustrom an neuen Patienten das Ganze endgültig kippen ließ. Und wir sollten sehen, dass das auch so bleibt.
Meine Hoffnung ist jetzt erst mal, dass der Sommer und etwas mehr Achtsamkeit für Entspannung sorgen; und dass wir bis zum Herbst Klinikkapazitäten und Behandlungsmöglichkeiten für schwere Fälle so weit ausgebaut haben, dass die Belastbarkeit des Systems für die zweite Welle höher ist. Am besten wäre natürlich, die zweite Welle kommt gar nicht erst durch ;-). Modell Taiwan oder Korea klingen gar nicht so schlecht ...

Abschließend zu HIV/AIDS: Okay, jene Infektion hat niemals ein Teilsystem abrupt zusammenbrechen lassen, wohl weil man das Gesundheitssystem durch die extrem lange Inkubationszeit gut vorbereiten konnte, jedoch disruptiv wirkte HIV sowohl auf das Sexualverhalten einer ganzen Generation als auch vermutlich auf die medizinische Forschung zu Viren. Und ganz generell sollte man zwischen potentiell disruptiven Infektionskrankheiten, die plötzlich auftreten, und nie übertragbaren (wie Diabetes) trennen.

Zur Propaganda: Okay, ertappt, natürlich bin ich ein Verschwörungstheoretiker – jedenfalls manchmal.

Politisch ist jede Pandemie zunächst einmal als regionales, epidemiologisches Problem zu begreifen, denn sonst verirrt man sich in lokalen Mortalitäten; beispielsweise dezimierte die Spanische Grippe mancherorts die Bevölkerung um zwanzig Prozent, nicht aber in Ländern wie Deutschland, wo auch angesichts dieses Coronavirus nirgends "Tote, die sich auf Gängen und Straßen stapeln" (ALomax), zu beobachten wären. Grenzt man aber das aktuelle epidemiologische Problem auf Deutschland ein, so lässt sich nicht leugnen, dass etwa die Grippesaison 2017/18 im ungefähr gleichen Zeitraum rund dreimal so viele Todesopfer forderte wie die aktuelle Erkältung. Warum dies in anderen Ländern nicht so ist, muss tatsächlich im Detail untersucht werden, denn für mich ist dies bisher ein großes Rätsel.

Und ob der Lockdown in Deutschland überhaupt so viel gebracht hat, ist eine wissenschaftlich bislang ungeklärte Frage, denn in Ländern ohne Lockdown geht der Anstieg der Todesopfer gleichfalls zurück.

Ebenso ist die intuitive Behauptung, "die Letalität hängt nun mal extrem an der Versorgung" (ALomax), in meinen Augen keineswegs bewiesen, denn etwa künstliche Beatmung könnte sogar schädlich sein.

Kurzum, empirisch war die Grippesaison 2017/18 für das deutsche Gesundheitssystem gewiss um ein Vielfaches schlimmer, aber gerade noch zu bewältigen, hat aber keine Diskussion um einen Lockdown ausgelöst. Warum? Was ist diesmal politisch so komplett anders? Könnte das neue Coronavirus nicht auch der deutschen Regierung extrem gelegen kommen, um bereits länger geplante gesellschaftliche Veränderungen ohne nennenswerten Widerstand durchzudrücken – wer wäre nicht gern Lebensretter?

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