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mehr als 1000 Beiträge seit 10.01.2003

"Ungleichheit kann gerecht sein"

So ungefähr hab ich eine der Kernaussagen jetzt verstanden. Und tatsächlich kann ich gewissermaßen der Aussage zustimmen - es kommt aber auf den Maßstab an.

Nichts ist gleich, nichts ist identisch, kein Baum, kein Blatt, kein Tier, kein Mensch, nichts. Mein Sohn ist diesen Freitag gegen 9 Uhr geboren worden, 2000g schwer, 6 Wochen zu früh. Wie "gleich" ist er wohl mit einem 3800g schweren Jungen, der auf den errechneten Termin genau geboren wurde? Der Kleine liegt auf der Kinderklinik und hängt an Schläuchen, der andere Bub darf bereits nach Hause. Die Startbedingungen sind also nicht gleich.
Nichts ist gleich.
Fühlen meine Frau und ich uns jetzt ungerecht behandelt?
Nein - und ja. Nein, weil wir einen gesunden Jungen haben, der die frühe Geburt besser verkraftet hat als erwartet. Ja, weil wir ihn nicht nach Hause mitnehmen können, weil die Nähe noch fehlt.
Aber es hätte auch schlimmer kommen können. Dankbarerweise ist dem nicht so.

Nichts ist gleich. Es gibt auch Ungleichheiten, die nur auf dem ersten Blick ungerecht erscheinen: warum hat jemand Millionen auf dem Konto, der andere aber fristet von Hartz IV sein Dasein? Gerecht? Gleich? Nein. Aber wie "ungerecht" ist es wohl, wenn das Millionenvermögen in den Händen eines Unternehmers ist, der aus einem Arbeiterhaushalt stammt, ein Unternehmen gegründet hat und auf die Weise sein Vermögen erworben hat? Ist es ungerecht, wenn jemand im Lotto den Jackpot knackt und der nächste noch nie was gewonnen hat?
Die genannten Ungleichheiten sind hauptsächlich sozialer und finanzieller Natur. Ein Kind kann sich nicht aussuchen, ob es in eine vermögende Familie hineingeboren wurde oder in eine Arbeiterfamilie.

Die eigentliche Ungerechtigkeit entsteht eigentlich an einer ganz anderen Stelle - und die sind nahezu ausschließlich sozialer Natur. "Aufstieg nicht möglich, Abstieg garantiert" könnte ein Buchtitel lauten. Ich spreche von der Einbahnstraße des sozialen Abstiegs, von der Ungerechtigkeit, dass Erwerbsarbeit seit der Einführung der Agenda 2010 keinen sozialen Aufstieg und keinen Wohlstandsaufbau mehr garantiert, sondern nur den Abstieg verhindert - und nicht einmal das.
Wer in den 90ern abhängig beschäftigt war, konnte Geld ansparen und sich ein Vermögen aufbauen. Wer in den 00ern beschäftigt war, hatte es etwas schwerer. Seit aber Zeitarbeit flächendeckend und branchenübergreifend eingeführt wurde, seit Hartz IV nicht für Absicherung sondern tiefen Fall steht, seit der Arbeitnehmer erpressbar gemacht wurde und die Beschäftigung wichtiger ist als die Entlohnung, ist es praktisch unmöglich gemacht worden, mit eigener Hände Erwerbsarbeit zu einem Vermögen zu kommen.

Es gab eine kurze Zeitspanne, da waren "ungleiche Startvoraussetzungen" nicht gleichbedeutend mit "ungleichen Lebensverwirklichungen". Aufstieg für Arbeiterkinder war schwieriger als für Akademiker-/Wohlstandskinder, aber nicht unmöglich. Heute dagegen gilt eher die "falsche soziale Herkunft" als Risikofaktor. Hartz-IV-Kinder werden selbst zu Hartz-IV-Empfängern. Wer in der Unterschicht landet, bleibt in der Unterschicht, teilweise auch aus der Enttäuschung heraus, weil Arbeit sich nicht lohnt (siehe Mindestlohn) und man teilweise schlechter gestellt ist, als wenn man ganz zu Hause bliebe (siehe Mietkostenübernahme durch's Amt). Es gibt nicht mehr nur eine gläserne Decke zwischen Mittelschicht und Oberschicht, sondern eben auch eine Art Ventil zwischen Mittelschicht und Unterschicht - und das lässt nur nach unten durch. Wer abstürzt, bleibt i.d.R. auch unten. Und wer unten geboren wurde, steigt nur seltenst auf.

Ungleichheit an sich ist nicht ungerecht, kann aber durch soziale Faktoren zu Ungerechtigkeiten führen. Diese sind nun gegeben: Chancen zum Aufstieg sind rar, die Möglichkeiten zum Abstieg dagegen überreichlich. Es wird immer von "Chancengleichheit" gesprochen, ein Ausgleich zwischen Aufstieg- und Abstiegsschancen wird aber nicht angestrebt. Stattdessen wird vorgegaukelt, man wolle Chancengleichheit für verschiedene Gruppierungen herstellen. Aber wo liegt die Chancengleichheit für einen Behinderten aus der Unterschicht, wenn er zwar nun leichter Zugang zu bestimmten Arbeitsverhältnissen erhält, wenn er aus eigener Kraft trotzdem den Aufstieg nicht schafft?

Und hier liegt für mich das Kernthema: Ungleichheit führt durch soziale Faktoren zu Ungerechtigkeiten, die auch noch durch falsche Politik verstärkt statt abgemildert werden. Auch die Gesellschaft ist durch jahrelange Kampagnen mürbe gemacht worden und empfindet die Situation als gerecht. Dabei ist die Ungerechtigkeit darin zu suchen, dass der Weg zum sozialen Aufstieg versperrt ist und jemand, der ganz unten gelandet ist, weder die Mittel noch die Möglichkeiten hat, sich aus eigener Kraft wieder zu befreien. Wer einmal aus'm Blechnapf frisst ... wer einmal Zeitarbeiter ist ... wer einmal Mindestlohn bekommt ... der bleibt eben auch auf immerdar dort, wo er gerade sitzt.

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