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  • sansculotte

mehr als 1000 Beiträge seit 16.09.2001

Es ist völlig unnötig,

von der Singerschen Auffassung der Determiniertheit des Gehirns durch
seinen je vorhergehenden Gesamtzustand voreilig auf die
grunsdätzliche Vorbestimmung oder Determiniertheit der gesamten
Persönlichkeit zu schließen. Diese unzulässige Verkürzung ist mE denn
auch die schwächste Argumentationslinie im gesamten Artikel und es
ist bezeichnend, dass die dem Singer-Zitat "Keiner kann anders, als
er ist" folgenden beiden Absätze keinen einzigen Quellenverweis
beinhalten.

Mir erschließt sich nicht ganz, was Frau Kaul mit dieser Fabuliererei
über Schicksal und Vorbestimmung überhaupt bezwecken will. Vielleicht
will sie zwischen "Deterministen" und Anhängern des freien Willens
polarisieren und so eine nicht notwendige Emotionalisierung der
Debatte herbeiführen.

Der Laplacesche Dämon, die Annahme also, dass sich aus der
vollständigen Kenntnis aller Anfangsbedingungen mit determinierter
Zwangsläufigkeit der Endzustand ergeben würde, ist spätestens seit
der Quantenmechanik aus den Naturwissenschaften verschwunden. Ihn in
der gegenwärtigen Diskussion über die Erkenntnisse der
Neurowissenschaften wieder einzuführen ist mehr als verzichtbar. Und
die Anfangsbedingungen der menschlichen Person und ihres Schicksals
schlicht in die Gene zu verlegen, ist wiederum mehr als fragwürdig.

Dies würde den Zweck des Gehirns völlig negieren. Denn das Gehirn ist
ja das informationsverarbeitende Organ schlechthin, was eine ständige
Wechselwirkung mit der Umwelt erfordert. Dementsprechend ist das
Gehirn in seiner Entwicklung auch plastisch genug, um die Formung der
Persönlichkeit durch die Umwelt zu ermöglichen: wir werden mit drei
mal weniger Neuronen geboren, als sie das erwachsenen Gehirn
aufweist, von der Anzahl der Verknüpfungen ganz zu schweigen.
Hier von einer strengen Determinierung durch die Gene zu reden geht
an allen empirischen Befunden vorbei.

Man kann trefflich darüber streiten, wie groß der Anteil der
genetischen Bestimmtheit und wie ausgeprägt wiederum der Anteil der
Umwelteinflüsse ist (nature or nurture), aber dieser Streit geht an
der Tatsache, dass es ganz einfach ein Sowohl-als-auch ist vorbei.
Wir wissen aus der Säuglingsforschung, dass einige Kinder offensiver
auf die Umwelt reagieren, explorativer sind, andere wiederum
zurückhaltender und leichter überfordert auf äußere Reize reagieren,
aber die Verkürzung, dass genetisch festgelegt sei, wer selbstbewusst
und wer schüchtern ist, sollte man tunlichst unterlassen. Ein
einziges großes Trauma oder eine gezwungenermaßen gegebene
Entwicklung in einer dysfunktionalen Familie können diese
"Charaktereigenschaften" gänzlich zudecken oder "neu überschreiben"
(Bruce Perry: How States Become Traits). Auch die Feststellung, dass
bei den "Selbsbewussten" andere Gene aktiv seien als bei den
"Schüchternen", lässt keine voreiligen Schlüsse zu: viele Genen
müssen erst durch Umwelteinflüsse exprimieren, d.h. sie werden erst
dann aktiv, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind.

Man sieht also, dass wir den Laplaceschen Dämon zum Teufel jagen
können, ebenso wie die darin enthaltene Verkürzung, dass der Mensch
durch seine Gene determiniert sei. Was Singer meint, ist schlicht,
dass wir keine immateriellen oder transzendtentalen Zusatzannahmen
brauchen, um das Gehirn zu beschreiben. Nur insofern lässt es sich
aus seinen materiellen Vorbedingungen vollständig erklären.

mfG, s


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