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  • Der Psychater

403 Beiträge seit 05.04.2020

Henne oder Ei?

Da sind wir in der Debatte ja schon mal weiter, wenn die Frage, was war zuerst: die NATO-Erweiterung oder der russische Revisionismus mitsamt völkischem Imperialismus?, aufgeworfen wird, wobei als Antwort: die NATO! gegeben wird.

Die Option einer NATO-Mitgliedschaft von Ukraine und Georgien war und ist eine rote Linie. Die Annektion der Krim und des Donbas aber auch. Dazu riss Moskau weitere rote Linien, durch den Abschuss einer niederländischen Passagiermaschine und die Ermordung von etlichen Personen in westlichen Staaten. Auch die Unterstützung der Wahlmanipulation des Diktators Lukarschenko war ein Bruch der roten Linie. Wir haben es also mit einer Eskalation zu tun, deren Grundlage das Denken der Krim ist, dass Russland Einflussgebiete zustehen, ein absoluter Anspruch, der akzeptiert werden müsse. Moskau setzt sich mit seinen Forderungen und seinem Handeln über die Charta der UN hinweg, was nicht akzeptiert werden kann, da der Absolutismus keine Option für die heutige Weltordnung darstellt.

Schauen wir genauer auf die Option der NATO-Erweiterung, so können wir feststellen, dass innerhalb des Bündnisses keine Einigkeit gegeben war. Während D und F 2ü08 und kurz vor Kriegsausbruch 2022 Putin versicherten, dass keine Aufnahme der Ukraine geplant sei, weil man auf die Interessen Russlands Rücksicht nehmen wollte, waren die USA eher gewillt, die Option zu realisieren. Da jedoch die Aufnahme eine Einstimmigkeit der NATO-Mitglieder erfordert, gab es zumindest mittelfristig keine Perspektive. Putin forderte eine langfristige Perspektive, also über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Das ist sehr außergewöhnlich in der Diplomatierealität, in der niemand weiß, was in 20 oder 30 Jahren sein wird.

Ich erinnere mich, dass Selensky in seinem Wahlkampf sich optimistisch gezeigt hatte, sich mit Moskau einigen zu können. Er war als Schauspieler in Russland beliebt und wohl auch gut vernetzt. Offensichtlich teilten ihm nach Amtsantritt der Kreml mit, dass in russischen Augen die Ukraine keine Existenzberechtigung hätte. Klar, dass auf dieser Grundlage keine Einigung möglich ist. Dieser Grundsatz, verbürgt durch die UN und durch zahlreiche verbindliche Verträge seit 1919, ist nicht verhandelbar, weder für Europa, noch für die USA, schon gar nicht für die Ukraine.. Diese ungeheuerliche Sicht von Moskau steht einer Friedenslösung auch aktuell im Weg.

Meiner Meinung nach ist nicht die NATO-Frage die Ursache für den russischen Revisionismus. Zum einen ist objektiv die Mitgliedschaft Finnlands genauso relevant wie jene der Ukraine. Zum anderen halte ich es für überzogen, die Möglichkeit einer Option in zig Jahren dafür verantwortlich zu machen, wie Putin und seine Clique generell machtpolitisch handelt. Denn anstatt einen Schulterschluss zu suchen, sei es mit der ukrainischen Realität, sei es mit der belarussischen Opposition, sei es mit Berlin und Paris, oder sei es auch mit China (es gibt keine chinesische Industrie in Russland), igelt sich Moskau in einer Ideologie des 19. Jahrhunderts ein und überhebt sich vollkommen mit seinem Versuch, ein russisches Imperium mit stalinistischen Mitteln zu restaurieren. Mal abgesehen, dass das eh noch weniger nachhaltig ist als die höchstens mittelfristige (wenn überhaupt) Option einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft, zerstört Moskau die Basis dessen, was es eigentlich erhalten möchte. Ich denke, die russische Föderation wird es mit der heutigen Verfassung in 10-20 Jahren nicht mehr geben, weil Moskau keine Perspektive bieten kann und weil die Bevölkerung den Blutzoll im Bruderkrieg zum Aufstand bringt, spätestens in einer Nach-Putin-Ära. Nach innen: Wer möchte denn heute in einem absolutistisch-totalitären Staat mit 19. Jahrhundert-Ideologie leben? Nach außen: Die Bevölkerung welchen Staates sucht die Nähe eines stalinistischen Möchtegern-Borg-Imperiums, dessen Losung lautet: Widerstand ist zwecklos, wir werden euch assimilieren?

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