Für jeden Einzelnen ist sein Ausmaß an Konformität folglich der Gradmesser seiner moralischen Gefährdung. Dem Konformisten wird das Selbst schwach – sein Wille und damit seine Fähigkeit, die eigene Erfahrung durch Nachdenken zu verarbeiten, wird schwach; seine Moralität, der Vorbehalt des Nachdenkens gegen das Tun, wird nicht kultiviert, und so festigt sich mit jedem Jahr des bloßen Mitmachens das eigene Schicksal, vor allem als Funktionär zu existieren. Das eigenwillige Leben wird durch die Gewohnheit verdrängt, dem Druck oft nur vermuteter fremder Erwartungen nachzugeben, um zu gewinnen, was die etablierte Ordnung zu bieten hat.
Konformistisch sein ist somit eine komplizierte, kraftraubende Sache und keineswegs der berühmte „Weg des geringsten Widerstands“. Es ist der Sport, mit anderen um die Wette fremde Erwartungen zu erraten und zu antizipieren. Man versucht dabei, auf möglichst glaubhafte Weise ein für andere simuliertes Innenleben nach außen zu kehren. Genau dies ist das in jeder Gesellschaft für uns vorgesehene Programm: Abschaffung des eigenen Nachdenkens zugunsten eines vorauseilenden, über fremde Erwartungen spekulierenden Gehorsams. Dies ist der Weg zur Verkümmerung unseres Selbst, zur Abschaffung unserer eigenen, wertenden Perspektive auf die Welt.
Was bleibt, ist ein allein noch außen operierender Mensch, der auf eingehende Reize umstandslos durch zweckmäßige Verarbeitung in gewohnheitsmäßigem Denken und Tun reagiert. Der Konformist exekutiert damit die bestehende Ordnung bruchlos, ohne verzögernde oder den Betrieb gefährdende Reflexion; er macht, wie Theodor W. Adorno sagt, „mit der Welt gemeinsame Sache gegen sich“. Dieser zeitlose Typus Mensch ist der Funktionär, dessen Erzählung von sich selbst schlicht und direkt durch die herrschenden Tatsachen und allgemein akzeptierten Forderungen bestimmt ist. Seine gedankenlose Klarheit ist es, die ihn zum perfekten Organisator und Mitläufer jedes beliebigen Unrechts macht.
Daraus erklärt sich, dass Ehrgeiz als Leittugend der Industriegesellschaft auftritt und durchweg positiv verstanden wird. Der planvolle, geradezu sportliche Eifer, zugunsten des eigenen Fortkommens auch ja so zu erscheinen, wie die anderen mich mutmaßlich gerne hätten, ist das zuverlässigste äußere Zeichen der Systemfrömmigkeit eines Menschen – seiner moralischen Anspruchslosigkeit, seines Desinteresses an eigenen Wertungen und Haltungen. Ehrgeizige Konformisten machen gerade keinen Unterschied, und deshalb werden sie von unserer (wie auch jeder anderen) etablierten Ordnung bevorzugt herangebildet.
(Michael Andrick, Multipolar)