Ansicht umschalten
Avatar von DJ Holzbank
  • DJ Holzbank

mehr als 1000 Beiträge seit 03.09.2011

Re:

Ich muss zugeben, dass ich gegen meine Gewohnheit schon nach der ersten Seite aufgehört habe zu lesen. "Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten", dazu "Innovation und Kundenorientierung", das hat mir einfach gereicht. Das hat zu meinem (halben?) Eigentor geführt.
Nun stellt sich also heraus, dass Wagenknecht, die in den 90-ern mit dem Ulbrichtschen "neuen Ökonomische System der Planung und Leitung" geliebäugelt hat, damit für sie offenbar verwandte (?) Vorstellungen bei den Liberalen entdeckt hat und diese um "Arbeiterselbstverwaltung", genauer Produzentenbesitz ergänzen möchte.

palette schrieb am 24.04.2016 03:44:

Grundsätzlich schätze ich deine Beiträge sehr, aber hier liegst du, finde ich, voll daneben.

... dass z.B. Verkehrsflugzeuge einst nur von zwei Konzernen weltweit hergestellt würden und ein Produzent von brauner, stark gezuckerter Limonade zu den größten Konzernen weltweit aufsteigen würde?

Und? Sahra Wagenknecht geht doch sehr intelligent in eine ganz andere Ebene und spricht die eigentliche Kernfrage an, die Eigentumsfrage.

Im Artikel nennt sie als Beispiel die Zeiss-Werke und formuliert dann allgemein:

Ich schlage vor, die Rechtsform der Kapitalgesellschaft durch solche Eigentumsformen zu ersetzen, bei denen Unternehmen faktisch sich selbst und damit der Gesamtheit ihrer Belegschaft gehören.

Das ist ein revolutionärer Vorschlag. Ich wüsste gerne, wieso du das als "dünne Bretter bohren" wahrnimmst. Ehrlich.

Mir scheint das der intelligenteste, weil dem Realisierbaren am nächsten kommende, strategische Schritt zu einer neuen Wirtschaftsordnung zu sein, die wirklich demokratisch ist, und der "Herrschaft des Menschen über den Menschen" ein Ende setzen kann.

Den Kapitalismus lehnt eine überaus große Mehrheit ab, aber er scheint derzeit für noch weit mehr Leute alternativlos zu sein. Und Wagenknecht bietet eine Alternative! Eine, die breite Teile der Gesellschaft anzusprechen vermag.

In Diskussionen hab ich bisher immer für eine Neuauflage der leninschen NEP plädiert:...
...
Und Wagenknechts neues Buch scheint mir in eine ähnliche Richtung zu gehen, aber wesentlich durchdachter und intelligenter. Ich finde, was sie schreibt, hat echt das Zeug dazu, Geschichte zu schreiben.

Hier nun auf die Schnelle ein paar Einwände, auch wenn ich den Vorwurf "Godesberg" mit Freude kassiere.
1. Die gegenwärtige Gesellschaft stellt m.E. nicht nur eine "Herrschaft des Menschen über den Menschen" dar, sondern eben auch eine "Herrschaft der Dinge" über den Menschen, weil die gesellschaftliche Reproduktion - und also die grundlegenden Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern - über Geld und WAREN, anstelle von Produkten vermittelt werden. Insbesondere der damit zusammenhängende Aspekt des Warenfetischismus, der sogar in den realsozialistischen Ländern anzutreffen war, hat dort ja in nicht unbeträchtlichem Maße dazu geführt, dass die Volksmassen - und insbesondere die Arbeiter, die ostdeutschen Bauern waren wesentlich skeptischer - nach der 1989/1990 erreichten umfassenden politischen Souveränität nichts besseres zu tun hatten, als sich "richtige" Herren zu suchen, also das Volkseigentum für Gebrauchtwagen und Bananen zu verscherpeln.

(Einschub zu Geld-Ware-Beziehungen im Realsozialismus:
Einerseits ist versucht worden, diese zurückzudrängen. Man denke an die sog. "zweite Lohntüte", die alle Leistungen meinte, die entweder nicht als Ware offeriert wurden oder erheblich subventioniert wurden. Andererseits gab's insbesondere zur späten Ulbrichtzeit Warenwerbung im Fernsehen und in der späten DDR einen Run auf die Luxusgüter, die überteuert angeboten wurden, um die erwähnte "zweite Lohntüte" zu finanzieren.)

Dieser triumphierende Warenfetischismus, also letztlich die im Vergleich zu Marxens Zeiten grundlegend verschärfte Orientierung auf Partikularinteressen (siehe Marcuse "Der eindimensionale Mensch"), befeuert einerseits die für die Umwelt tötliche erweiterte kapitalistische Reproduktion ("Wachstum") und _behindert_ (!!!) andererseits die Möglichkeit, über demokratische Entscheidungen zu gesamtgesellschaftlich rationalen Lösungen zu gelangen (siehe die Tragödie von 1989/1990). Diese Situation lässt sich m.E. nur durch eine Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit verändern, genauer durch eine damit verknüpfte Veränderung der Bedürfnisstrukturen, wie sie Bahro in "Die Alternative"* skizziert hat. Aber wie dahin gelangen, schließlich hatte Bahro eine Transformation unter ganz anderen gesellschaftlichen und Machtverhältnissen vor Augen?

Wagenknechts Produzentenkapitalismus (?) oder "sozialistische Produzentenmarktwirschaft" würde daran gar nichts ändern, sie scheint das Problem nicht einmal im Blick zu haben. Ein Problem - ich wiederhole mich, welches alle Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchzieht, das Politische, die Organisation der Ökonomie und den Umgang mit der Umwelt.

2. Wagenknecht skizziert die "Marktwirtschaft" als eine gemütliche, alle zufrieden stellende Austauschökonomie. Im 18. Jh. dagegen wurde als ihr Credo treffender - und nicht so gemütlich - formuliert als "private vices, public benefits", sie also als Ordnung triumphierender Partikularinteressen betrachtet. Deshalb (!) taucht im 19. Jh. die Idee gesamtgesellschaftlicher Planung auf und an dieser Stelle setzt, wenn ich mich nicht täusche, auch Marxens Kritik an Proudhon an, mit dem er daraüber hinausgehend überwiegend übereinstimmt. Wagenknecht Ausführungen ("eine Föderation über den Markt austauschender Produzenteneigentümer") könnte man also als Neuauflage Proudhons betrachten - nothing new under the sun.

Dabei gilt es zu beachten, dass die staatliche Planung und Intervention selbst im Monopolkapitalismus (eigentlich also staatsmonopolistischer Kapitalismus) ein gewaltiges Niveau erreicht hat, was von liberaler Seite zum Vorwurf des "Sozialismus" führt. Der kapitalistische Staat greift jedoch nicht aus Machtwahn ein, sondern um die gesamtgesellschaftlichen "Reibungsverluste" der auf Partikularinteressen ausgerichteten Marktteilnehmer möglichst gering zu halten.

Das wären meine grundlegenden Einwände. Viele Details ließen sich ergänzen, aber vielleicht nur ein Punkt, weil Sie die NEP ansprachen. Die NEP führte bereits 1927/1928, also nach fünf Jahren, zu spürbaren Disproportionen. Zum einen zwischen den verschiedenen Sektoren der Gesamtwirtschaft (Landwirtschaft!), zum anderen auf der Ebene des persönlichen Reichtums ("NEP-Mann"). Man muss jedoch hinzufügen, dass die NEP letztlich nicht deshalb aufgegeben wurde, sondern weil sie nicht genügend Mittel abwarf, um vor allem die als lebensnotwendig erachtete moderne Rüstungsindustrie in kürzester Zeit schaffen zu können.

Grüsse
Holzbank

P.S.
*) Bahros "Die Alternative" ist zwar leider der Vergessenheit anheim gefallen, aber wenn Sie derartige Probleme interessieren, so sollten Sie unbedingt einen Blick hinein werfen. Der alte Marcuse nannte es Ende der 70-er Jahre "das wichtigste marxistische Werk, das in den letzten Jahrzehnten erschienen ist".

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.04.2016 13:08).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten