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  • Leser2015

477 Beiträge seit 19.11.2015

Nach welchen Regeln möchten wir in Zukunft in Würde leben?

Ohne dieses Buch Zeitenwende der Wirtschaftshistorikerin Prof. Dr. Andrea Komlosy bisher gelesen zu haben, zu dem auch beim Magazin Hintergrund am 19.01.2023 eine interessante Rezension von Helge Buttkereit erschien (https://www.hintergrund.de/feuilleton/literatur/die-zeitenwende-des-kapitalismus/), geht es dort wohl vor allem darum, das Wie des Pandemiemanagements durch die gemäß Komlosy vor etwa siebzig Jahren begonnene Kybernetische Revolution des kapitalistischen Systems zu erklären, die »den Menschen selbst zum Gegenstand der Bearbeitung und Verwertung machen« (S. 65) und zugleich diese zeitgemäßere transhumanistische Entfremdungform als Freiheitsgewinn für die Menschheit – »der Avatar als der neue Mensch« (S. 236) – vermarkten werde.

Dies erscheint plausibel, doch vielleicht sollte die Aufarbeitung der letzten drei Jahre zunächst kleiner beginnen und einzelne Kategorien getrennt untersuchen, um erst am Ende die große weltanschauliche Interpretation zu wagen. Nachdem die Emotionen etwas abgeklungen sind, könnte es mit zeitlichem Abstand erneut um die Themenbereiche Epidemiologie, Recht, Ethik und Kommunikation gehen, um im Wiederholungsfall einer solchen Krise besser gerecht zu werden.

Epidemiologisch ginge es im Rückblick um ein geeignetes Maß für die Schwere der Pandemie.

Früher hatte man keine Tests, und es blieb folglich nur die Ermittlung der Übersterblichkeit als wohl noch heutigen Goldstandard der Epidemiologie, um zumindest im Rückblick die Gefährlichkeit einer Infektionskrankheit in einem Zeitraum und an einem Ort zu ermitteln.

Gemäß des Soziologen Prof. Dr. Bernhard Gill (https://telepolis.de/-6333282 und dort unter »Zusammenfassung und Schlussfolgerungen«) und bei dessen Methodik sowie eigener Aufrundung dieser Zahlen erhielte man nur geschätzte 70.000 COVID-19-Todesfälle in Deutschland für alle drei Pandemiejahre zusammen (10.000 im Jahre 2020 sowie in 2021 und 2022 jeweils 30.000) –, wenn man also ähnlich wie nach historischen Pandemien die krankheitsbedingten Todesopfer lediglich geschätzt statt wie im Fall COVID-19 getestet hätte. Nur bei Verwendung der exakt gleichen epidemiologischen Methodik lässt sich die Gefahr durch viele unterschiedliche Infektionskrankheiten der Atemwege vergleichen, um diesen Streitpunkt endlich beizulegen.

Juristisch – und damit auch ethisch – wäre in Deutschland die Frage zu thematisieren, wie wir es nicht nur in solchen Pandemiezeiten denn künftig mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes halten sollten.

Überraschenderweise werteten sowohl maßnahmenbefürwortende als auch -kritische Menschen die Position der Gegenseite jeweils als menschenverachtend, also als völlig unvereinbar mit der in der Verfassung garantierten Würde des Menschen (https://www.lecturio.de/magazin/art-1-i-gg-schutz-der-menschenwuerde/) und der bisherigen Rechtspraxis dieser Garantie in der Rechtsprechung (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33162/bedeutung-der-menschenwuerde-in-der-rechtsprechung-essay/), wobei im Kontext der Maßnahmen natürlich besonders die Interpretation der Objektformel (https://de.wikipedia.org/wiki/Objektformel) interessierte. Schließlich wurden zeitweise alle Menschen in Deutschland, später dann nur noch ungeimpfte, zumindest gefühlt zu Gefährdern (https://de.wikipedia.org/wiki/Gef%C3%A4hrder) erklärt, manche Juristen verwiesen hingegen auf die Kategorie des Nichtstörers (https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtst%C3%B6rer) oder aber des Störers (https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%B6rer), um den rechtlichen Status großer Teile der Bevölkerung zu beschreiben.

Was stimmt nun im Rückblick, und ist es denn mit der Qualität des Menschseins vereinbar, in einem für diese Spezies üblichen Maße komplett gesunde Menschen nur noch als potentielle Virenschleudern, als abstrakten Infektionsherd zu betrachten – und somit als gemeingefährlich aufgrund deren bloßer, natürlicher Existenz? Was unterscheidet hier eigentlich eine Pandemiezeit vom sonstigen Alltag?

Jeden Tag kann ein Mensch einen anderen mit einem für diese Person am Ende tödlichen Erreger infizieren. All die vielen zehntausend Todesopfer durch Infektionskrankheiten aller Art pro Jahr in Deutschland müssen sich irgendwo angesteckt haben. Menschen werden sich nie wie tote Objekte desinfizieren lassen, eben weil sie Menschen sind. In keiner mir bekannten Pandemie der Menschheitsgeschichte fand eine solche Entmenschlichung durch hoheitliche Gewalten und Teile der vierten zuvor statt. Selbst in Zeiten von Pest und Lepra waren zwar lokal einzelne Menschen, Häuser oder Städte von Quarantäne betroffen, jedoch auf eigene Gefahr durften äußerlich Gesunde überall hin, mussten allerdings unter Umständen dann auch dort bleiben; genauso hielt man es mit dem Wirtschaftsleben, alles auf eigene Gefahr.

Und was ungezählte Kommunikationsverantwortliche in Politik und Leitmedien betrifft, so fällt wieder deren Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen auf – etwa wegen einer angeblichen Verharmlosung der Pandemie oder eines falschen Impfstatus, was der ganzen Bevölkerung deren Freiheit raube und sogar töten könne. Ironischerweise wurde dies oft zugleich mit den Menschenrechten auf Leben, Freiheit und Würde begründet, um deren Schutz es natürlich auch Ausgegrenzten ging, wenn sie zum Beispiel auf Demonstrationen aus dem Grundgesetz vorlasen, bevor sie durch Polizeigewalt zu Boden gebracht wurden, allein im Interesse sachgemäßen Gebrauchs der Verfassung. Instrumentalisierungsvorwürfe auf beiden Seiten und von Fachleuten geschürter Hass; natürlich gab es auch Todesfälle im Kontext solcher Demos, aber eben durch Herzinfarkte.

Kurzum, eine aussöhnende Aufarbeitung der gesamten Pandemiezeit müsste, getrennt nach verschiedenen Themenbereichen, genauer in den Blick nehmen, ob sich an unserem Menschenbild im Vergleich zu dem unserer Vorfahren etwas grundlegend geändert hat und woran dies dann liegen könnte. Wie begreifen wir uns als soziale Wesen und was zeichnet ein Menschenleben in Würde wirklich aus?

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