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  • Karl-Katja Krach

528 Beiträge seit 09.07.2019

Der Naturalismus müsste als widerlegt gelten? Logikfehler / schwammige Wortwahl

Sowohl die physikalistische These von Harris als auch deren vermeintliche Falsifizierung sind ungenau formuliert. Die Wortwahl generiert das Problem und verschleiert es simultan.

Zum Stichwort "Übernatürliches" noch einmal ein interessantes Zitat von Harris. Dieser meint erst, der Leib-Seele-Dualismus sei nicht falsifizierbar (was wohl schon für Descartes, der Aussagen über die Arbeitsweise der Zirbeldrüse traf, nicht stimmt), und schreibt dann über den Physikalismus, den er hier wohl synonym zum Naturalismus verwendet:

"Der Physikalismus könnte, im Gegensatz dazu, leicht falsifiziert werden. Falls die Wissenschaft jemals die Existenz von Geistern oder Reinkarnation bestätigt, oder irgendeines anderen Phänomens, das den menschlichen Geist (vollständig oder in Teilen) außerhalb des Gehirns platziert, dann wäre der Physikalismus tot."
Harris, 2014, S. 191; dt. Übers. d. A.

Hier müsste man erst einmal anmerken, dass Harris mindestens zwanzig Jahre Fortschritt in den Kognitionswissenschaften verschlafen hat: Denn dort hat man sich in großen Teilen darauf geeinigt, Stichworte "embodyment" und "situatedness", dass sich psychische Prozesse sehr wohl über das Gehirn auf den Körper und die Umgebung ausdehnen. Die Extended-Mind-Hypothese (z.B. nach Andy Clark und David Chalmers, 1998; 2010 gab es schon einen Sammelband bei MIT Press) ist auch bei Technikfreaks, Cyborgs und in der Augmentation- und Bodyhacking-Szene populär.

Beim Wort genommen, müsste der Physikalismus laut Harris also schon als widerlegt gelten. Immerhin dehnen sich psychische Prozesse laut "extended mind" nicht nur über das Gehirn auf den Körper, sondern auch auf Computerchips, Gadgets, Apps und andere Hilfsmittel aus.

Als Physikalist müsste Harris doch sagen, dass er gar nicht versteht, was mit "Geist" gemeint ist (und das Wort, wenn er es dennoch gebraucht, dann in Anführungsstrichen setzen). Es gäbe nur Kognitionen und diese seien immer in einem "physikalischen" (d.h. materiellen) Kognitionssystem verortet, sei es nun biologisch oder kybernetisch oder bio-kybernetisch.

Das widerspricht dann auch nicht den Experimenten, bei denen Menschen mittels eines Spiegels suggeriert wird, ein Gummiarm sei der Ihrige und sie dann eine Berührung verspüren, wenn der Gummiarm berührt wird. Es ist nicht der Gummiarm, der die Berührung verspürt.
Auch, dass biokybernetische Implantate das Kognitionssystem erweitern, ist unproblematisch, denn diese müssen zunächst lernen, elektrische Impulse zu senden, mit denen das biologische Kognitionssystem etwas anfangen kann (auch wenn das Kognitionssystem selbst auch lernt). Erst dann können sie in das Kognitionssystem integriert werden.

Keine externe Aktivität kann mit einem Kognitionssystem gekoppelt sein, wenn dieses nicht Kognitionen enthält, die diese Aktivität auf irgendeine Weise verstehen. Die Körpergrenze kann sich auf unbelebte Objekte ausdehnen, bei der Rennfahrerin, die das Auto körperlich wahrnehmen oder beim Billiardspieler, der den Queue als verlängerten Arm wahrnehmen kann. Doch es ist nicht das Rennauto oder das Queue, das diese kognitiven Prozesse beherbergt, sondern das biologische Kognitionssystem.

In der MIT-Publikation wird wiederholt davon gesprochen, dass Kognition nicht nur im Kopf stattfände, aber das unterstellt eine verkürzende Theorie des Kognitionssystems, wie sie bei Harris tatsächlich vorzuliegen scheint, wenn er das Rückenmark, die sensiblen und das aktiven Nerven gar nicht berücksichtigt, also die Geschlossenheit des Nervensystems nicht als methodisch relevant ansieht.
Vielmehr müsste aus einer kognitionswissenschaftlichen Sicht doch die Rede davon sein, dass das Gehirn, der Kopf, der Körper methodisch gesehen zuerst im Kognitionssystem ist und erst danach das Kognitionssystem im Gehirn, im Kopf, im Körper sein kann.

Schon als Kind konnte ich beim Lesen eine außerkörperliche Erfahrung herbeiführen, bei dem sich der Standpunkt, von dem die Welt aus betrachtet wird, etwa einen halben Meter hinter meinen Kopf verlegte und ich mich beim Lesen beobachten konnte. Wenn ich nicht an einen Dualismus glauben will, muss ich also annehmen, dass der Kopf im Kognitionssystem ist und nicht andersherum.

Ich schreibe das aus einem religiösen Atheismus heraus, der den Glauben an Reinkarnation und den Götterglauben sowie das Gebet wegen ihrer negativen Konsequenzen und ihrer Ökonomie ablehnt. Die religiöse Erfahrung ist für mich dennoch Realität - als Erfahrung des Substrates der Wahrnehmung, der Kognition.

Was wirklich den Naturalismus falsifizieren würde, wäre, wenn das Kognitionssystem an Informationen gelangen kann, die es aus physikalischer Sicht nicht haben dürfte. So gibt es die Theorie, dass manche Patient:innen bei einer OP eine außerkörperliche Erfahrung machen und eine Nachricht lesen können, die für alle im Raum unsichtbar über dem Lampenschirm angebracht ist. Oder dass manche Menschen statistisch signifikant Bilder mit sexuellen Inhalten schon vor deren Anzeige auf dem Bildschirm identifizieren können (also mit 53% Erfolgschance statt mit 50%, wie zu erwarten), was ein amerikanischer Forscher behauptet.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (17.04.2021 22:02).

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