Danke Herr Schleim für diese Serie.
Hier an dieser Stelle will ich nur kurz meinen methodischen Einwand ausführen. Ich will meine Überlegungen zu diesem Topos auch noch einmal in einem separaten Text zusammenfassen, das kann aber ein paar Tage dauern.
Also:
Jener liberalistische "Materialismus", den Stephan Schleim hier vorgestellt hat, unterscheidet sich wesentlich von dem historischen Materialismus von Marx und Engels, auch wenn wir von deren mechanistischer Geschichtstheologie absehen.
Es ist kein Zufall, dass "Materialismus" in der Alltagssprache bedeutet, dass Gewinn und Besitz - was wir landläufig "materielle Güter" nennen - das Wichtigste im Leben sind. Denn in der Welt des philosophischen Materialismus sind Werte nicht vorgesehen:
Es herrscht ein Nihilismus, alle Standpunkt sind gleich sinnlos. Ohne moralische Orientierung werden Menschen im Endeffekt wohl schlicht das tun, was ihr Belohnungssystem aktiviert; und dies wiederum ist eine Folge angeborener Strukturen und sozialer Konditionierung. So sind sie immerhin gute Arbeitskräfte und Konsumenten.
Die Aussage, es gäbe keinen metaphysischen (höheren) Sinn, ist - wie ein metaphysisch gedachter Atheismus - immer noch tief im Repräsentationsdenken verankert. Das ist ein Widerspruch zu einem methodischen Skeptizismus, der um die Begrenztheit der Erkenntnisfähigkeit Bescheid weiss. Weder die An- noch die Abwesenheit eines metaphysischer Sinnes lässt sich wissenschaftlich beweisen.
Von der Unbeweisbarkeit der Anwesenheit eines höheren Sinnes auf die Abwesenheit eines solchen Sinnes zu schließen, ist schlicht und einfach ein logischer Fehlschluss.
An eine solche Abwesenheit kann man glauben, aber das ist genauso willkürlich, wie an an die Anwesenheit zu glauben.
Wissenschaftlich konsistent ist da ein methodischer Agnostizismus - dass wir von Ab-und Anwesenheit im Sinne der Repräsentation (auch im Sinne des Phänomenalismus(!)) nichts sicher wissen können und dass wir auf unsere diesseitige menschliche (oft allzu-menschliche) Sinngebung zurückgeworfen sind.
An dieser Stelle ignoriert der liberalistische Naturalismus einfach die menschliche Fähigkeit zur Sinngebung und macht die nächste unbeweisbare metaphysische Behauptung: Alles sei gleich sinnlos.
Dadurch konstituiert sich jedoch nur seine eigene Unsinnigkeit, ja sogar Feindseligkeit gegenüber aller menschlicher Sinngebung, die mit der Sinnentleertheit von kapitalistischen Prozessen und der Sinnentleerung durch kapitalistische Prozesse einhergeht.
Bleibt also die Erkenntnis, dass dieser "Materialismus" einfach nur ein negativer Idealismus ist.
Trotz aller metaphysischen Restbestände, die sich in der historischen Dialektik von Marx und Engels identifizieren lassen, ist ihr Materialismus um die Handlungen von Menschen zentriert. In der Handlung gehen Theorie und Praxis ineinander auf oder führen zum Widerspruch. In der dekonstruktiven Lesart heißt das: Sinn gibt es erst in einer in sich widerspruchsfreien Handlung - oder er wird gewaltförmig aufgehoben.
Ein methodischer Agnostizismus befreit die Menschen auch von der Sklaverei der historischen Dialektik gegenüber (etwa hinsichtlich des Stalinismus). Das lässt sich auch aus jener Wertkritik lernen, der es um die Befreiung individueller Sinngebung in der gesellschaftlichen Produktion geht und nicht um das Überstülpen eines vorher schon existierenden Sinnes (Wertes), den die Wissenschaft nur noch zu repräsentieren bräuchte.
Keine der religiösen Traditionen hat den Kapitalismus verhindern können und nirgends hält sich die herrschende Klasse an die religiösen Werte, die sie zu repräsentieren vorgibt. Dass sich trotzdem so viele Menschen Antworten von diesen an Dogmen gebundenen Traditionen erhoffen, schreiben linke Materialist:innen i.d.R. der alltäglich erlebten Ohnmacht in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen zu.
Mir geht es nicht darum, die Existenz religiöser Erfahrungen zu bestreiten. Aus emanzipatorischer Perspektive geht es darum, darüber so zu sprechen und zu schreiben, dass dadurch die individuelle Fähigkeit zur Sinngebung und der Respekt vor der Sinngebung des Gegenübers gestärkt wird. Darauf will ich hier nicht genauer eingehen. Angemerkt sei nur, dass Sinngebung nichts ist, was ein Subjekt willentlich verursachen könnte.
Es bleibt die Utopie: Die auf Gegenseitigkeit beruhende Befreiung der individuellen Sinngebung wird zum kollektiven Sinn einer Gesellschaft, in der „die freie Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der freien Entfaltung aller ist“ (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest).
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (16.05.2021 03:33).