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  • laube

207 Beiträge seit 14.03.2012

Re: Wie die Proteste auf einen, der sich Macbeth anhören wollte, wirken

routare schrieb am 16.09.2023 11:18:

Voltaire beurteilte in seinen Geschichtswerken die jeweiligen Herrscher, Länder, Epochen danach, welche kulturellen Leistungen sie in den Bereichen der Wissenschaft und der Kunst hervorgebracht haben. Warum? Weil Wissenschaft und Kunst der individuellen Freiheit zugute kommen. Sie richten sich gegen Religion und ideologische Verblödung. Jenseits aller notwendigen Arbeit gibt es etwas, das uns von der Schönheit des Klangs, der Sprache, der Bilder erzählt, und zwar ganz unabhängig von den realen Personen, die solche Kunstwerke geschaffen haben.
Wenn ich also in die Oper gehe, möchte ich mich an diesem einen Abend frei fühlen, frei von all den Lasten des Alltags. Ich habe darauf gespart, ich habe 150 € ausgegeben, ich habe mich mit der Geschichte Macbeth beschäftigt, überlegt, warum Verdi dieses Stück zu seiner Zeit vertont hat, wie seine Zeitgenossen darauf reagiert haben.
Ich komme also in Berlin Unter den Linden an, die Strasse ist gesperrt, man parkt fernab, geht den Rest zu Fuss und trifft auf ca. 1500 Leute, die vor dem Haupteingang "No Netrebko, No Netrebko" skandieren. Ich sehe, es sind hauptsächlich Ukrainer, gut, sage ich mir, die können nicht anders, suchen eben Aufmerksamkeit.
Ihre Parolen sind schon schmutzig: "Putins bitch" liest man da, einer hält eine Ikone hoch, ziemlich viel Hass in den Gesichtern. "Ihr, sage ich mir, müsst Gott sei Dank (noch) draußen bleiben". Historische Vergleiche aus 1933ff kommen mir in den Sinn.
Vergessen alles in dem Moment, wo ich in der Staatsoper sitze und warte, bis es los geht.
Die Vorstellung von Kupfer ist sehr angereichert mit realistischen Elementen: Soldaten, Feuer, Explosionen auf einer riesigen Leinwand, vor denen sich dann das Drama um Macbeth, diesem Prototyp eines Usurpatoren und (bei Verdi) eines Volksfeindes auf dem Thron, abspielt. Anna Netrebko titt auf mit ihrer grandiosen Stimme singt sie die Arie der Lady Macbeth an ihren Ehemann, den General Macbeth:
"..Du bist ehrgeizig,
Macbeth … sehnst dich nach Grösse,
aber wirst du auch bösartig sein?
Der Weg zur Macht ist voll
von Verbrechen, und wehe dem,
der unentschlossen ist und zurückschreckt!

Komm, eile! Ich will
dein kaltes Herz entzünden!
Ich gebe dir den Mut,
die kühne Tat zu vollbringen!
Die Prophetinnen versprechen dir
den Thron Schottlands …
Was zögerst du? Nimm das Geschenk an,
besteige ihn und herrsche! "

Und was für eine Stimme! Tosender Beifall brandet auf, gestört von einigen laut vernehmbaren "Buh, Buh" Rufern aus dem Publikum im 3.Rang. Das Publikum reagiert mit noch mehr Beifall, so lange, bis den Buh Rufern die Luft ausgeht, einige, ebenfalls dort Sitzende, fordern die Störer auf, ruhig zu sein. Schon bin ich froh, doch als es mit dem Gesang weitergeht, sind die Buhrufe in meinem Kopf, das Ausblenden der Störung dauert erstaunlich lange, bis ich mich wieder auf die Musik konzentrieren kann.
Und darum, scheint mir, geht es diesen Leuten: Sie wollen nicht, dass in unserer Welt Freiräume existieren, in denen ich zur Ruhe kommen kann, in denen ich mich mit Musik, mit einer Oper beschäftigen kann und alles andere, was mich sonst jeden Tag, jeden Morgen, fast jede Stunde hinunterzieht, vergesse. Sie wollen mich zerstören. Sie haben keine Achtung vor der Kunst - sind meine und der Menschheit Gegner.

Diese heimlichen und weniger heimlichen Russland-Admirer! Bei der geringsten Erschütterung ihres Porzellangemüts prophezeien sie schon den Untergang des Abendlandes. Wenn man in die Oper geht, erwartet man natürlich, dass die Welt draußen vor bleibt. Und die "Störenfriede"? Die hatten doch tatsächlich die Frechheit, ihren Opernabend zu beeinträchtigen.

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