Als der Ukraine im Budapest-Memorandum Sicherheitsgarantien im Tausch gegen den Verzicht auf Atomwaffen gegeben wurden, war nicht daran gedacht, dass das Land je zu einem nato-Launchpad umfunktioniert werden würde. Im Gegenteil wurde damals vom Westen hoch und heilig versprochen, die nato nicht nach Osten auszuweiten. Das ist leicht beweisbar. Mithin ist eine Berufung auf diese Zusicherungen mehr als scheinheilig. Dazu kommt noch, dass die Selenski-Regierung das Budapest-Memorandum in den Monaten vor Kriegsausbruch zunehmend in Frage gestellt hatte.
Wie bei allen Befürwortern einer bellizistischen westlichen Reaktion setzen die Autoren dieses offenen Briefes den 24.2.22 als entscheidenden Bezugspunkt. Damit manipulieren sie die Ereignis-Interpunktion, sie schneiden all das, was zur russischen Entscheidung geführt hat, schlicht ab und eröffnen eine neue Zeitrechnung.
Die pseudo-ethischen Argumente kann man nicht ernst nehmen, wenn gleichzeitig aus den usa Töne kommen, man werde mit der Unterstützung der Ukraine nicht aufhören, bis Russland besiegt und sein Rückgrat gebrochen sei. Abgesehen davon, dass das ein sicheres Rezept für einen dritten Weltkrieg ist, beweisen solche Aussagen auch, dass es keineswegs um den Schutz der Ukraine geht, sondern um die Zerstückelung Russlands, was gesinnungsethisch gesehen noch schlimmer ist, als der russische Angriff auf die Ukraine, weil man damit die gesamte Erdbevölkerung in Gefahr bringt.
Unter den deutschen Bellizisten gibt es auch Leute, die noch deutlicher aussprechen, wohin das alles führen soll. So sagt Gabor Steingart, ehemaliger Chefredakteur des Handelsblatts:
Die Führbarkeit eines Dritten Weltkrieges ist nicht allein eine militärische Kategorie, (...) zu allererst sogar (...) eine ökonomische Kategorie. Denn ohne eine wirtschaftliche Entflechtung entlang der Macht- und Militärblöcke ist die effektive und über einen längeren Zeitraum durchhaltbare Kriegsführung unmöglich, wie wir schon an der deutschen Abhängigkeit von russischem Erdgas erkennen.
Mit anderen Worten - der aktuelle Wirtschaftskrieg, die Boykotterei, ist notwendige Voraussetzung für einen dritten Weltkrieg.
Angesichts der heutigen Überwaffen kann man über diese grausigen, letzlich nihilistischen Wahnvorstellungen, die bei Steingart im kühl-rationalen Kleid daherkommen, nur entsetzt zurückschrecken und also auch von der Kehlmann'schen und Biller'schen Begeisterung fürs Öl ins Feuer giessen, entschiedenen Abstand halten. Ich jedenfalls will nicht, dass mir diese Sorte Intellektuelle meine Lebenszeit verkürzt.