klaudie schrieb am 05.05.2022 20:50:
Die Autoren reden von einer europäischen Friedensordnung. Ernsthaft?
Ernsthaft.
Das ist kein Wischiwaschi. Das ist ein ganz konkretes Dokument:
https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_von_Paris
Die derzeitige europäische Ordnung ist doch das Ergebnis mehrerer Kriege
Selbstverständlich ist auch eine europäische Friedensordnung ein Ergebnis von Kriegen.
Ohne Kriegführung wäre eine ausdrückliche Friedensordnung ja unnötig!
vor allem seit 1990.
Du guckst zu kurz - die Grundlage war die Zeit nach WW2, als die Regierungen aktiv daran gearbeitet haben, die Ressentiments zwischen den Völkern abzubauen, statt sie weiter zu befeuern. (Inbesondere Adenauer und de Gaulle. Die "Erbfeindschaft" zwischen DE und FR ist dadurch überhaupt erst weggekommen.)
Die Charta war der Versuch, das Modell auf die Zeit nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs auszudehnen.
Deswegen führen die Ungarn keine Kriege gegen Nachbarstaaten mit großer ungarischer Minderheit. Sie drohen nicht mal damit, selbst da, wo sie glauben, die Minderheiten würden beklagenswert unterdrückt.
Deswegen hat man überhaupt die Unterstützung für die Kriege mit den jugoslawischen Nachfolgestaaten gehabt: Hätte es dort keinen Völkermord gegeben (eine drastische Verletzung der Charta), wären diese Kriege mangels Wunsch zur Kriegführung ausgefallen.
Diese Friedensordnung ist durchaus real.
Sie ist, wie dir richtig auffällt, auch mangelhaft. Aber sie ist nicht gescheitert, sonst hätten wir zwischen England und Irland schon längst Kriege gehabt. Oder zwischen Frankreich und Deutschland - der Elsass hat immer noch große deutschsprachige Minderheiten, aus denen man einen Kriegsgrund konstruieren könnte, und die AfD würde sich sowas mit Freude unter den Nagel reißen, wenn die Vorstellung eines Kriegs mit FR aus heutiger, friedensordnungsbedingter(!) Sicht nicht so absurd klingen würde. (Okay, außerdem ist FR eine Nuklearmacht und DE nicht. Aber Fakten haben die AfD ja kaum je gestört...)
Dazu zählen nicht zuletzt die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, mit denen die westliche Staaten (EU, Nato) ihre Vorherrschaft im Europa westlich des Bug gesichert haben.
Der Völkermord hatte die Friedensordnung ja schon gebrochen.
Und außer Krieg gab es kein Mittel, den Völkermord zu beenden.
Was EU/NATO angeht: Wer sonst hätte da eingreifen sollen? Die Russen etwa? Die Türken?
Die Autoren fordern in dem, was sie eine Verhandlungslösung nennen, ganz offen die Unterwerfung Russlands unter ihre westliche Hegemonie.
Das haben sich die Russen selbst zuzuschreiben.
Hätten sie sich auf die Friedensordnung eingelassen, wäre man froh, einen starken Partner in Europa zu haben.
Stattdessen haben sie schon zu Jelzins Zeiten wieder imperialistische Ideen hochgekocht; da müssen in sämtlichen GUS- und Paktstaaten alle Alarmglocken losgeschrillt sein.
1999 kam Putin an die Macht, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als in Tschetschenien einzumarschieren. Erst in diesem Jahr sind Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO eingetreten - ja NATÜRLICH sind sie das, die Russen hatten klar keine Lust mehr auf die Charta und wollten ihr altes Imperium wiederhaben, ich würde da auch mit aller Macht in ein Verteidigungsbündnis wollen, egal welches! (Wäre aus der EVG was geworden, wären sie da eingetreten. Und Scheiß auf Details, alles außer den Russen - die Geschichte hat den Oststaaten Recht gegeben, die Russen haben ja schon in Tschetschenien einfach alle Städte niedergebombt, die ihnen im Weg waren.)
Dazu setzen sie auf eine weitere Kriegseskalation, wofür sie natürlich auch Waffen brauchen.
Mit dem Erfolg kommen nun mal die Begehrlichkeiten.
Allerdings dürften das Träume bleiben. Selbst eine komplett siegreiche Ukraine wird nicht in Russland einmarschieren, da sind die russischen Atomwaffen davor.
Sie reden allerdings nicht vom Frieden und wie man ihn erreichen kann.
Doch, haben sie. Das war die Charta von Paris.
Die Russen wollten dabei halt nicht mitmachen.
Auch wollen sie nicht das Leid lindern, das Krieg über die Menschen bringt.
Sie wollen das Leid verhindern, das eine russische Annektion der Ukraine bringen würde.
Die Russen haben ja schon richtig Völkermordfantasien entwickelt, sogar in regierungsnahen Zeitschriften. Da wird die russische Bevölkerung schon drauf vorbereitet, dass man die ukrainische Kultur vernichten müsse - und dass man alle, die nicht aktiv gegen die Regierung Selenski gearbeitet haben (also über 90% der Bevölkerung) deportieren und versklaven müsse.
Und sie reden nicht von den Völkerrechtsbrüchen der eigenen Kriege, von Jugoslawien
Aber konform zur Friedensordnung: Leid verursachen, um das Potenzial zu noch viel üblerem Leid zu beenden.
Da hatte ja auch niemand wirklich Spaß an diesen Kriegen.
über Afghanistan
Das waren die Amis. Nicht die europäische Friedensordnung.
bis in den Irak/Syrien.
Das war US-amerikanischer Imperialismus, allerdings gegen wirklich widerliche Diktatoren (sonst hätten sie niemanden überzeugen können, mitzumachen).
Was ist mit dem noch viel grausameren Krieg im Jemen, den die Saudis auch mit deutschen Waffen führen? Da wird lieber laut geschwiegen.
Auch weit außerhalb Europas.
Und Europa kann nicht auf der ganzen Welt gegen Krieg, Terror und Unterdrückung einstehen. Es ist ja schon in Europa selbst schwierig genug.
Die Waffenlieferungen an die Saudis werden ja auch scharf kritisiert.
Und sobald die Energiewende umgesetzt ist, wird das auch sehr schnell nachlassen mit dem Kuschelkurs; aber momentan haben die Saudis die westliche Welt nun mal an den Eiern.
Der Frieden, den sie meinen, ist ein westlicher Diktatfrieden.
Gegenüber jemandem, der Krieg führen will, ist jeder Frieden ein Diktatfrieden.
Und wenn es schon ein Diktatfrieden sein muss, ist es halt die Standardfrage: Westlicher, russischer oder chinesischer Diktatfrieden, welcher soll's denn sein?
Und die sogenannte "europäische Friedensordnung" die Orwellsche Neusprechformel für ihre Forderung nach Unterwerfung. Das Völkerrecht dient ihnen lediglich als wohlfeile Propagandafloskel.
Das ist Propagandamist, solange deine Begründungen widerlegbar sind.