Ja, Covid-19 ist eine schlimme Pandemie, sie ist mit allen Mitteln, die wir zur Verfügung haben, einzudämmen – aber sind nicht auch die psychischen Langzeitfolgen insbesondere bei Kindern, sind nicht z.B. auch wirtschaftliche Konsequenzen zu bedenken?
Selbstverständlich wurden und werden sie bedacht.
Ja, Putin ist ein skrupelloser Diktator, der einen nicht zu rechtfertigenden Krieg gegen die Ukraine begonnen hat – aber hat Realpolitik nicht schlicht aus strategischen Gründen zu berücksichtigen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht mit ungleich höheren Ressourcen kaum zu gewinnen ist?
Erstens hat nicht Putin die ungleich höheren Ressourcen, sondern der Westen.
Zweitens: Ja, man kann auch gegen eine Atommacht gewinnen. Siehe Vietnam, siehe Afghanistan, wo die Gegner der Atommacht ebenfalls unterlegen waren (und unter Waffenhilfe einer andere Atommacht dennoch gewonnen haben).
Drittens: Es ist auch der strategische Grund zu berücksichtigen, dass Russland offen verkündet hat, dass sie die ehemaligen Ostblockstaaten wieder unter russische Hegemonie bringen wollen; mittlerweile haben sie sogar die DDR wieder angemeldet.
Die Reaktionen auf Einwendungen und Bedenken gegenüber den genannten Positionen sind stereotyp. Stets wird vermieden, auf diese sachlich einzugehen, stattdessen werden Bedenkenträger auf persönlicher Ebene verächtlich gemacht und ihre Reputation angegriffen.
Ja wen wundert's?
Wenn mir jemand mit dummem Zeug kommt wie oben kommt, was soll man dazu sagen?
Entweder ist der Mensch mit den Einwänden wirklich dumm, dann ist da wenig zu machen.
Oder die Einwände sind in Wirklichkeit nur vorgeschoben und in Wirklichkeit geht's nur um die persönliche Bequemlichkeit. Den Unwillen, selbst kleinste Einschränkungen hinzunehmen, selbst wenn Andere dadurch potenziell lebensgefährliche Risiken ausgesetzt werden (was schon eine ziemliche Sauerei ist).
Oder die Einwände sind in Wirklichkeit einfach nur bezahlte Propaganda interessierter Parteien.
Der Artikel selbst ist natürlich kein dummer Einwand, da er die dummen Einwände nur als Beispiele zitiert.
Bedauerlicherweise stellt er sich aber komplett hinter genau die so vorgetragenen Einwände, und so stellt sich dann die Frage, warum er denn ausgerechnet dumme Einwände vorträgt.
Hätte er beispielsweise die Einwände von Gigi Hadid vorgetragen, die tatsächlich eine sehr differenzierte (und dennoch sehr entschiedene!) Sichtweise zum aktuellen Konflikt in Palästina vorgetragen hat, wäre das ein viel besseres Beispiel gewesen.
Und dann hätte er auch einen schönen Beleg dafür gehabt, dass auch differenzierte Themen niedergeschrien werden, und zwar einträchtig von beiden Seiten.
Aber so... muss ich halt doch in Frage stellen, ob Jörg Räwel nicht einfach nur den Propagandisten den Weg ebnen will statt den Menschen, die tatsächlich einen Diskurs wollen.
Und dann fängt man halt an, nachzudenken, warum Räwel so klar die antiwestlichen Argumente bevorzugt, und der Verdacht auf russische Einflussnahme drängt sich geradezu auf - nicht, dass ich persönlich ihm das unterstellen möchte, aber es wäre eine plausible Hypothese, die man ernsthaft untersuchen könnte, ohne sich damit zum Dummkopf zu machen. Wer nicht tatsächlich auf Moskaus Lohnliste steht, sollte sich so eine Blöße einfach nicht geben, das ist ja unnötig!
So. Noch ein paar Widersprüche, wo Räwel einfach Irrtümern aufsitzt:
Erst Formen der schriftlichen Kommunikation ermöglichten es, dass sich Gesellschaften "stratifizieren" konnten.
Nein, Schriftlichkeit ist für eine Stratifikation nicht nötig.
Die frühen Ackerbaugesellschaften hatten etwas, das als Palastwirtschaft bezeichnet wird: Alle Überschüsse werden im "Palast" abgeliefert (der auch einfach nur das Lagerhaus sein kann) und nach Bedarf dorthin abgegeben, wo sie gebraucht werden.
Die Stratifikation ist schon dort zu beobachten: Die Überschussverwalter hatten am Ende die prächtigen Gräber.
Auch die Gesellschaften des Altertums waren teilweise hoch stratifiziert. In Ägypten, Sumer, Uruk: überall gab es Schriftlichkeit, aber nur für die Oberschicht, die aber schon vor Einführung der Schrift existierte.
Ich denke, Stratifikation setzt in dem Moment ein, in dem man Güter hat, die sich aufbewahren lassen. Ob das nun Kornspeicher oder Bronzebarren sind: Das sind wertvolle Dinge, die der eine kontrollieren und der andere sich unter den Nagel reißen will, also braucht es Spezialisierungen für Angriff bzw. Verteidigung, und schon hat man Kampfspezialisten, die sich dann auch innerhalb der Sippe rein körperlich leichter durchsetzen können, und - schwupps - hat die Stratifikation begonnen.
Die vormoderne Gesellschaft ging hingegen vom Primat des Persönlichen aus, Sachlichkeit, Leistungsrollen, Funktionsträgerschaft waren insofern von sekundärer Bedeutung, als sie aus dem Primat des Persönlichen abgeleitet wurden.
Entsprechend war eine Migration zwischen den hierarchisch organisierten Gesellschaftsschichten, etwa aufgrund hervorragender Leistungen von Personen, unmöglich.
Oh nein, so war das nicht.
Die britische Gesellschaft beispielsweise hatte sehr scharfe Klassengrenzen, aber sie waren durchlässig: Wer fähig war, wurde auf die Schule geschickt und konnte aufsteigen.
Auch Deutschland so um 1900 herum hatte Ähnliches. Da wurde der Bub vom Pfarrer als talentiert entdeckt, auf die Schule geschickt, dann entweder Geistlicher oder zum Studieren und "was werden" in die Stadt geschickt. Der Pfarrer und das Dorf hatten einen Vertreter in der Nähe der Obrigkeit, was gut war; die Oberschicht hatte einen talentierten Diener mehr. (Muss man nur mal auf Geschichten dieser Zeit gucken, Ludwig Thoma beispielsweise.)
Ein Aufstieg in die höchsten Schichten blieb natürlich versperrt, aber man kam durchaus in das hinein, was man heute als Mittelstand bezeichnen würde.
Und wenn jemand aus dem Mittelstand sehr erfolgreich war, konnte er sogar tatsächlich in die Oberschicht aufsteigen, aber das war halt tatsächlich extrem selten - und doch: Wenn sich ein Mittelständler einem Oberschichtmitglied unentbehrlich machte, war da durchaus was möglich.
Selbst im Mittelalter war ein Aufstieg möglich, wenn man Geistlicher wurde. Die Kirche war komplett stratifiziert, aber wer gut war, konnte Pfarrer, Vikar, Bischof, sogar Papst werden - letzteres naturgemäß nur extrem selten, weil es da einen Karrierestau gab und natürlich auch die Söhne reicher Fürsten auf diesen Sitz wollten (und zeitweise war es tatsächlich so, dass der Papstthron nur mit viel Geld zu haben war, aber halt nicht durchgängig und die Praxis wurde auch immer wieder angegriffen).
Tja... was halte ich von jemandem, der mit Thesen daherkommt, die ich genausogut von einem beliebigen Forumsteilnehmer hören könnte... und dann stellt sich Räwel hin und beansprucht soziologisches Fachwissen für sich, und ich denk mir: Hätteste besser was anderes studiert, denn ich zerreiß dir deine Thesen ja sogar als Nichtsoziologe problemlos...
(Und dann beschweren sich die Soziologen, dass man ihr Fach nicht ernstnimmt - aber verwunderlich ist's nicht, wer Soziologie rein als Aneinanderreihung von Thesen betreibt und großzügig aufs Überprüfen verzichtet, ist halt wirklich in der Laberabteilung des Fachs.)