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  • Leser2015

454 Beiträge seit 19.11.2015

Demonstrationen aus Demokratiebewusstsein?

Der im Artikel aus dem verlinkten nd-Interview zitierte Historiker Prof. Dr. phil. Jens-Christian Wagner hat eigentlich nur in einem Punkt recht, nämlich dass gegen was auch immer Demonstrierende, die sich selbst als antifaschistisch verstehen, zu politisch rechtem Gedankengut Distanz halten müssen. Leider beginnen aber bereits hier Interpretationsprobleme, denn Wagner sieht hinsichtlich staatskritischer Protestdemonstrationen überall Verschwörungserzählungen und antisemitische Codes, also neofaschistisches Gedankengut oder zumindest fehlendes Geschichtsbewusstsein, etwa bei jener »Jana aus Kassel«, die auch im vorliegenden Artikel erwähnt wird.

Abgesehen davon, dass man nicht Vergleiche mit Gleichsetzungen verwechseln darf, verwundert bei vielen Medien und Experten, dass der Brunnenvergiftungsvorwurf als antisemitisches Stereotyp (https://de.wikipedia.org/wiki/Brunnenvergiftung#Mittelalter), der lange gegen Ungeimpfte erhoben wurde (https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/pandemie-der-ungeimpften-100.html), nirgends als struktureller Antisemitismus thematisiert wird, obwohl selbst Wagner Störungen in der Gedenkstätte Buchenwald erwähnt, wenn dort in der Pandemiezeit ausgrenzende 2G-Regelungen angesprochen wurden.

Außerdem wird man den Verdacht nicht los, dass Wagner im nd-Interview implizit die meines Wissens überholte Kollektivschuldthese vertritt, wenn er etwa, wie auch im vorliegenden Artikel zitiert, von Deutschland als einer »Post-Täter-Gesellschaft« spricht oder im Jahre 2002 zum nationalsozialistischen Lagersystem in der »Tätergesellschaft« publizierte. Natürlich sollte man stärker nach konkret Verantwortlichen fragen, doch das waren in der NS-Zeit wie in jeder Diktatur in erster Linie die politischen Machthaber und die damals staatsnahen gesellschaftlichen Eliten, und eben gerade nicht pauschal die Gesamtgesellschaft. Wenn die Schuld in der Gesellschaft insgesamt oder im Herrschaftssystem gesehen wird, sind am Ende alle und so niemand wirklich für die Verbrechen verantwortlich.

Schließlich darf man auch nicht vergessen, dass die NS-Diktatur aus einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild hervorging, weshalb unsere heutige deutlich wehrhafter konzipiert wurde, was allerdings wiederum genau dann zum Problem werden könnte, wenn diese Wehrhaftigkeit von Eliten gezielt missbraucht würde, etwa durch schleichende Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit. Aus meiner Sicht vereint die meisten Demonstrierenden gerade nicht »Ressentiments gegen die westliche Demokratie« (Wagner), sondern vor allem eine echte Sorge um unser rechtsstaatliches Demokratiemodell, wenn ein Abgleiten in eine expertokratische Nominaldemokratie gefürchtet wird, wofür es angesichts der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung Gründe genug gab.

Vielleicht mangelt es Teilen der gesellschaftlichen Eliten selbst an echtem Demokratiebewusstsein, wenn staatskritische Protestbewegungen nur deshalb als verschwörungsideologisch und damit als strukturell antisemitisch klassifiziert werden, weil Unzufriedene auf vermeintliche oder tatsächliche Missstände aufmerksam machen möchten und diese Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugleich personalisieren, also Namen aus Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft genannt werden. Sofern es sich jedoch so verhielte, dann wären im demokratischen Rechtsstaat wirklich nur noch konstruktive Demonstrationen zu abstrakten Themen, etwa zur Klimarettung, hinsichtlich derer ein breiter Konsens über das historische Versagen der Gesamtgesellschaft bestünde, politisch legitim, weil diese Kritik dann alle beträfe; solche bestätigenden Demonstrationen beunruhigen niemanden.

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