Ja, es stimmt soweit, die alten Massenmedien beweinen ihren Bedeutungsverlust. Und ja, da kommt ihnen "postfaktisch" als Kampfbegriff gerade recht.
Aber das ist bereits ein Missbrauch des Begriff, der seinen Kern in einer sehr wahren und sehr fatalen Entwicklung hat, die der Autor ignoriert, zu der er eher noch beiträgt, nämlich, dass die Informations- und Meinungsüberflutung durch das Internet bei sehr vielen Leuten in westlichen Gesellschaften eben nicht dazu führt, dass sie genauer nach der Wahrheit suchen, sondern im Gegenteil, dass ihnen die Wahrheit zusehens egal ist.
Der Kreationist glaubt an die Erschaffung der Welt in 7 Tagen, der Klimaskeptiker glaubt an den Klimahoax, der RT-Gucker glaubt an das Gute im Russen, der "Truther" glaubt an die CIA-Verschwörung hinter 9/11, der Heiseleser glaubt an die Verschwörung der Massenmedien, der Montagsdresner glaubt an die Islamisierung des Abendlandes. Jeder glaubt das, was er glauben will, und immer hauptsächlich aus sozialen Gründen, weil er damit in einer bestimmten peer group Zustimmung findet. Und reden können diese Gruppen gar nicht mehr miteinander, weil sie das konstruktive Streiten verlernt haben.
Das ist der Kern der Wortes "postfaktisch", und daran ist nichts falsch und nicht ausgedacht, sondern das ist leider der Zustand der westlichen Gesellschaften.
Das Internet macht Wissen zugänglich wie nie zuvor, jeder kann sich in einer nie dagewesenen Tiefe über alle Themen informieren. Nur tut es kaum jemand, weil es sehr aufwändig ist, und wenn, dann am liebsten, um seine vorgefasste Meinung zu bestätigen. Stattdessen hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass alle Meinungen und Ansichten im Kern irgendwie gleichwertig sind, weil es eh viel zu kompliziert bis unmöglich ist, das Gegenteil zu beweisen. Und solange man sich -- virtuell oder nicht -- mit Leuten zusammentun kann, die dasselbe glauben, hält man es für sein Recht als freie Bürger, zu glauben, was man will, sei es noch so haarsträubender Unsinn.
Soziologen hatten schon seit vielen Jahren ein Problem mit dem Begriff der Wahrheit, und diffamieren sie als soziales Konstrukt, was weniger mit "Erkenntnissen" (ha ha...) der Soziologie selbst zu tun hat, sondern damit, wer Soziologie studiert. Die Wahrheit ist aber kein soziales Konstrukt, man kann nach ihr suchen und sich ihr nähern, wenn man sich darum bemüht, alleine oder als Gruppe.
Viele Soziologen waren schon im schlimmsten Sinn postfaktisch, bevor es das Wort oder auch nur das Internet überhaupt gab. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sie diesen Begriff jetzt abzuwerten versuchen.
Das Schlimme ist, dass völlig unklar ist, ob westliche Gesellschaften (ich vermeide das Wort Demokratien, weil das ja wieder jeder anders sieht) unter diesen Umständen bestehen können. Ich hoffe es wirklich. Der Ex-KGB'ler Putin macht jedenfalls einen hervorragenden Job dabei, das Phänomen zur Destabilisierung des Westens zu nutzen.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (10.12.2016 21:25).