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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Ein weiteres Beispiel nicht wahrgenommener menschlicher Entfremdung

Der Autor, Herr Schoenmakers, schreibt, er wäre früher stolz gewesen auf Deutschland, auf sein Land. Das bedeutet, er identifizierte sich mehr oder weniger mit seinem Land, was er heute offenbar nicht mehr oder kaum noch tut. Dazu ist zu bemerken, daß die Identifizierung mit einer Großgruppe wie der Bevölkerung eines Landes – das Land ansich kann er wohl kaum damit meinen, denn das ist im Grunde, abgesehen vom Gelände, eine reine Kopfkonstruktion – ein Zeichen von Gruppennarzißmus ist: Man möchte zu diesem als groß (artig) empfundenen Gebilde dazugehören, man will Teil davon sein, um so vom scheinbaren Glanz etwas abzubekommen.

Weiter schreibt der Autor:

Immer schneller kippt ein zukunftsvergessenes Deutschland in ein paternalistisches System, in der Gesellschaft erlebt die Faszination fürs Befehlen, Gehorchen und Strafen eine unselige Renaissance und die Innovationsimpulse kommen von woanders.

Das war (nicht nur) in Deutschland schon immer so. Alle Gesellschaften in allen Nationen stellen mehr oder weniger strenge hierarchische Strukturen dar. In solchen Hierarchien sind Befehlen, Gehorchen und Strafen für Ungehorsam an der Tagesordnung – was Herrn Schoenmakers offenbar entgeht. Erst jetzt scheint ihm die strukturelle Gewalt der Gesellschaft, in der er lebt, bewußt geworden zu sein. Schon wenn er eine Firma gründet, verläßt er sich auf den bei fast allen früh implantierten Gehorsam: Er möchte, daß seine Mitarbeiter und Untergebenen seinen Befehlen Folge leisten und ihre Aufgaben so erledigen, wie er es geplant hat, zudem pünktlich erscheinen und sich mit einem geringen Prozentsatz des Mehrwertes, den sie erarbeiten, zufrieden geben. Außerdem möchte er – wie im Grunde alle Firmeninhaber –, den Hauptanteil der Profite selbst einstreichen und erwartet von seinen Untergebenen, daß sie jegliche Begehrlichkeit auf seinen Profit zurückstellen, wie sie auch den größten Teil ihrer Persönlichkeit draußen lassen sollen, wenn sie morgens die Firma betreten. Er erwartet, daß seine Mitarbeiter acht oder mehr Stunden täglich fremdbestimmt leben und arbeiten.

Der Autor schreibt weiter: »In diesem Teil der Serie geht es mir darum, dass Deutschland offensichtlich jede Lust auf ein Morgen verloren hat.« Das kann man aber, will man sich an die Wirklichkeit halten, so pauschal nicht sagen. Die Menschen in einer gegebenen Gesellschaft sind niemals derart homogen, da gibt es immer solche und solche. Einige mögen ja innerlich aufgegeben haben, doch ich glaube nicht, daß man das für alle Menschen in Deutschland sagen kann. Ich kenne sehr viele Menschen in meinem Umfeld, die im Prinzip so weiterzumachen versuchen wie bisher, die sich sogar impfen lassen, um ihre gewohnten Freiheitsgrade wieder zurück zu gewinnen.

Der Autor meint, daß ein Land, das nicht mehr an seine Zukunft glaubt, keine Zukunft mehr habe. Doch jeder lebende und atmende Mensch hat eine Zukunft, egal wie groß, klein, kurz oder lang sie ausfallen wird, das weiß schließlich niemand. Der Autor versucht auffallend direkt, seinen offensichtlichen Pessimismus allen anderen Menchen, von denen er kaum einen kennt, überzustülpen. Er, der Autor, ist hier derjenige, der aufgegeben zu haben scheint. Natürlich lösen die Schäden, die man heute im Zuge der Corona-Maßnahmen anzurichten hat, Anteilnahme aus, die Berichte in den alternativen Medien sind voll von dieser Anteilnahme. Nur weil solche Anteilnahme kaum in den Mainstream-Medien zu sehen ist, kann man doch nicht einfach behaupten, es gäbe sie nicht!

Im nächsten Absatz schlägt der Autor in die vom Mainstream seit Jahren stark beförderte Aufhetzung der Alten gegen die Jungen und umgekehrt: »Während die Kinder für ihre Großeltern auf 4,5 Prozent ihres Lebenseinkommens verzichteten, gönnt sich diese Generation üppige Schlucke aus der Rentenpulle, während überall sonst krisenbedingt Einkommen sinken und Schulden steigen.«

Dazu ist zu sagen: Zahlreiche Rentner leben heute auf demselben Niveau wie Hartz-IV-Empfänger – oder sogar darunter, weil sie zu stolz sind, zum Amt zu gehen und Aufstockung zu beantragen. Doch was sollten die immer weniger werdenden wohlhabenden Rentner tun? Ihm, dem Autoren, Geld überweisen, weil sie's ja so üppig haben? Oder auf Geld verzichten und den Staat bitten, das Geld doch besser für Bedürftige auszugeben?

Der Staat – wer ist das überhaupt? Der Staat besteht vor allem aus Ideologien, an die die Menschen, die von ihm beherrscht werden, glauben. Der Staat wird von einem Beamtensystem am Laufen gehalten, von einem System, das relativ unabhängig von den jeweils Herrschenden, den gewählten Politikern, existiert und arbeitet – und das ständig wächst. Und noch immer gilt: Jede Bevölkerung hat die Regierung, die es verdient, denn offensichtlich werden die politischen Parteien, die für all das, was der Autor anprangert, verantwortlich sind, immer wieder gewählt. Zudem sind die Unterschiede zwischen den Parteien mit der Zeit immer kleiner geworden, so daß es heute quasi egal ist, wen man wählt – an der politischen Richtung wird das kaum was ändern.

Im Text des Autors finden sich nebelhafte Formulierungen so zahlreich, daß ich fast ein Buch darüber schreiben könnte. Ein weiteres Beispiel:

Was mich immer am stolzesten gemacht hat in Bezug auf mein Land: dass ausgerechnet auf dem Boden, von dem der dumpfeste Nationalismus und der konsequenteste Faschismus ausgingen, eine der liberalsten, offensten Demokratien der Welt gediehen ist.

Dazu möchte ich feststellen: Die tatsächlichen Ursachen für den Nationalsozialismus der Hitlerei wurden niemals wirklich aufgearbeitet, ja nicht einmal angefaßt. Die von den damaligen Besatzungsmächten verordnete »Demokratisierung« war und ist nichts anderes als ein Deckmäntelchen, unter dem die Bedürfnisse nach Macht und Kontrolle, nach Befehlen und Unterordnen weiterhin gären. Echte Demokratie sieht anders aus: Sie ist unter anderem gekenntzeichnet von reger Bürgerbeteiligung, von emotionmaler und nicht nur kognitiver Bindung an das eigene menschliche und gesellschaftliche Umfeld, von humanistischer Bildung der Bürger, von sichtlichem politischen und menschlichen Engagement und von Hilfsbereitschaft für alle, die zu schwach sind, sich selbst zu behaupten.

Doch mit einer Bevölkerung, die seit unzähligen Generationen in frühester Kindheit dazu gedrängt wurde und weiterhin wird, zu gehorchen, sich dem Willen der Eltern, wie sie zu sein haben, zu unterwerfen und dadurch stark in ihrer emotionalen wie auch kognitiven Entwicklung behindert werden, sind Strukturen, die ein menschlicheres Miteinander möglich machen, nicht umsetzbar. Machtstreben wie auch Gewaltbereitschaft sind immer und ohne Ausnahme Zeichen von externalisierter unterdrückter Angst vor den Mitmenschen. Man traut seinem Nächsten nicht zu, sich rücksichtsvoll und empathisch zu verhalten, weil man selbst kaum Empathie entwickeln durfte. Durchsetzungsvermögen, Stärke, Profitstreben und dergleichen sind die wahren Werte, zu denen die meisten Menschen heute erzogen (gedrillt, konditioniert) werden.

Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, liegt in jedem einzelnen Menschen selbst begründet. Statt immer auf andere zu zeigen und ihnen Vorwürfe zu machen – man selbst sei ja durch und durch richtig und hätte nichts aufzuarbeiten –, sollte jeder sich an die eigene Nase fassen und klären, was bei ihm selbst schiefgelaufen ist: Wo bin ich selber Nazi, wo unterdrücke ich andere, wo generiere ich Feindbilder, wo bin ich selbst rücksichtslos usw.? Doch davon sind wir noch immer weit entfernt. Die allermeisten, so jedenfalls mein Eindruck, meiden das Thema Psychologie und alles, was damit zusammenhängt, wie der Teufel das Weihwasser. In fast jedem Menschen gibt es heute derart dunkle Bereiche seiner Psyche, die nicht nur gemieden, sondern vollständig verdrängt – abgekapselt, ins Unterbewußte verschoben, abgespalten – wurden und daher nicht mehr ohne weiteres wahrgenommen werden können. Dennoch sind diese Bereiche da, sie existieren ohne die Kontrolle des Bewußtseins im Verborgenen und werden getriggert, wenn sie bei einem anderen Menschen zutage treten. Dann werden diese eigenen verborgenen Zustände urplötzlich auf andere übertragen, denn bei einem selbst können und dürfen sie nicht sein, weil man ja per Definition ein guter Mensch ist. So entstehen Vorwürfe, Fremdenfeindlichkeit und vor allem Feindbildgenese. Und seien Sie mal ehrlich, Herr Schoenmakers, in Ihrem Text wimmelt es von Feindbildern geradezu.

Zum Glück haben sich in den letzten zwanzig Jahren, nahezu unbemerkt von den Mainstream-Medien, Bewegungen entwickelt, die diesen im Grunde Jahrtausende alten Traditionen der Kindererziehung entgegenzuwirken suchen. Immer mehr Menschen interessieren sich dafür, wie der Mensch – abseits von behavioristischen Betrachtungen – im Inneren funktioniert. Die moderne Hirnforschung mit ihren bildgebenden Verfahren hat längst zahlreiche Erkenntnisse der Psychoanalyse bestätigt. Die moderne Entwicklungspsychologie weist nach, daß Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung stark gehemmt und gestört werden, wenn man sie als Objekte und nicht als lebendige, eigenständige Wesen behandelt. Und dieses Bewußtsein wächst – unaufhörlich.

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