Das, was Katchanovski herausgefunden hat, mag im Einzelnen nicht überraschend für diejenigen sein, die sich mit Konflikt-Berichterstattung und auch mit dem Ukraine-Konflikt im Besonderen beschäftigt haben.
Das ist völlig korrekt. Bekanntlich ist die Wahrheit das erste Opfer in jedem Krieg. Was allerdings doch irritiert ist, dass Katchanovski (zumindest in der Zusammenfassung des Hr Goeßmann) recht kursorisch über die Argumentation zur Begründung für den russischen Überfall hinweg geht. Er lässt sich sehr ausführlich über den Maidan aus, was den Eindruck vermittelt, dass er ihn für einen zentralen Punkt der Vorgeschichte und einen wesentlichen Punkt in der Argumentation hält. Dann legt er noch einen drauf mit dem Satz:
Wäre Minsk umgesetzt worden, so Katchanovski, wäre der Krieg zu verhindern gewesen.
Hr Goeßmann hat diesen Satz sprachlich so formuliert, dass er als direkte, wenn auch nicht wörtliche Aussage von Katchanovski verstanden werden muss. Entgegen der Intention, eine akademische Studie vorzulegen, ergreift Katchanovski mit diesem Satz natürlich Partei und eignet sich das russische Narrativ an, dass der Überfall einzig und allein auf Fehler der UA zurückzuführen ist. Der Kontext "Minsk" validiert auch das russische Narrativ, dass es im Kern um den Schutz von russischen Volksangehörigen vor Unterdrückung und Bedrohung im Ausland, nämlich der UA, geht. Auch die ausführliche Diskussion um den Maidan und der von Hr Goeßmann ausdrücklich als wörtliches Zitat wiedergegebene Abschnitt zeigt diese Parteinahme.
Das ist wie gesagt mindestens irritierend. Es stellt sich zum einen die Frage, ob Katchanovski bewusst ist, dass diese Argumentation die Wiederaufnahme von Argumentationslinien aus dem 19. Jhdt. ist. Hier haben alle imperialistischen Mächte, auch Russland unter dem Zaren, ihre weltweiten "militärischen Sonderoperationen" genau mit dem gleichen Argument gerechtfertigt, dass eigene Volksangehörige im Ausland nötigenfalls auch militärisch geschützt werden müssen. Beim Zaren reichte es damals nur zu vorwiegend verbalen Scharmützeln um Jerusalem und eine Handvoll russisch-orthodoxer Mönche dort, weil auch damals schon die russische Armee nur ein Scheinriese war. Diese Argumentationslinie ist auch der Grund dafür, warum in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Unterstützung des Krieges sehr überschaubar ist. Schließlich müssen die alle damit rechnen, dass sie die nächsten sind, wenn es um den Schutz von Russen geht.
Zum zweiten geht Katchanovski mit merkwürdigem Stillschweigen über die ausführlichen Ausführungen von Putin und seinen Unterstützern hinweg, die den Überfall auf die UA als "Heimführung ins russische Reich" und als religiös gerechtfertigten Kreuzzug wider einen moralisch verworfenen Westen begründen. Auch diese Argumentationslinie greift natürlich zum einen die klassischen imperialistischen Narrative der europäischen Kolonialmächte sowie zum anderen die der faschistischen Staaten der Zeit zwischen WK 1 und WK 2 auf. In einer Studie, welche die propagandistischen Narrative von beiden Seiten aufzeigen will, wirkt dieses Stillschweigen zu einem zentralen russischen Narrativ dann doch sehr befremdlich.
In der Kombination mit der eindeutigen Parteinahme rund um Maidan und Minsk kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die angeblich unparteiische und akademische Studie in Wirklichkeit dafür gedacht ist, mittels "taktischer Frontbegradigungen" das russische Narrativ für das westliche Auditorium zu unterfüttern. Es wird konzediert und vorsichtig widerrufen, was sowieso eine offensichtliche Falschbehauptung ist, auf die niemand mehr hereinfällt. Gleichzeitig wird aber das zentrale Narrativ gestärkt: "ja gut, wir haben die UA überfallen, aber das haben wir nur getan, weil wir dazu durch die UA selbst gezwungen wurden".