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  • Pearphidae

mehr als 1000 Beiträge seit 14.11.2021

Für Interessierte: Die Mitschrift der Sendung

Eine Reportage mit Jessy Welmer, Dresden 19.09.2022
(Eigene Mitschrift des Films – zum Nachlesen einzelner Aussagen)
(Wer Tippfehler findet, darf sie behalten)

Mein Name ist Jessy Welmer. Ich bin Journalistin und Moderatorin und Ostdeutsche.
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Jessy Welmer: „Ich mach einen Film über meine Heimat Ostdeutschland, weil mich interessiert wie…“

Ein Bürger: „Ich denke, Sie machen die Sportschau?“

Jessy Welmer: „Ich mach sonst Sportschau, genau, aber jetzt interessiert mich meine Heimat. Der Blick auf Krieg und Russland und weil der bei Ostdeutschen einfach ein anderer ist, als bei vielen Westdeutschen. Und das was da ist, das interessiert mich.“
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Kommentar: Was ist los in meiner Heimat? Warum treffe ich hier immer wieder auf Menschen, die so anders über den russischen Angriffskrieg denken, als ich? Warum gibt es hier anscheinend ein deutlich größeres Verständnis für Russland, als im Westen? Und wie stark ist diese pro-russische Haltung wirklich verbreitet? Das sind meine Fragen in diesem Film.

Ich wurde 1979 in Güstrow in Mecklenburg geboren. Viele eigene Erinnerungen an die DDR habe ich nicht mehr, doch ich kenne noch die sowjetischen Heldengeschichten. Die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Deutschlands vom Nazi-Regime war in der Schule ein riesen Thema. Das alles ist lange her und jetzt doch wieder lebendig.

Ich begebe mich in diesem Film auf eine Reise um zu verstehen, warum viele Menschen sich im Osten sich Russland offenbar noch immer so nah fühlen. Und um es klar zu sagen: Ich möchte niemanden verurteilen. Ich werde Fragen stellen und zuhören.

Russland, Putin und wir Ostdeutschen

Zunächst führt mich mein Weg in meine Heimatstadt Güstrow, zu meinen Eltern. Ich habe in den letzten Monaten gemerkt, dass wir in der Bewertung der aktuellen Ereignisse zunehmend unterschiedlicher Meinung sind. Dieser Film ist also auch ein sehr persönlicher. Meine Eltern waren erst sehr skeptisch, als ich ihnen von diesem Projekt erzählte.

Ich war vor gar nicht allzu langer Zeit hier - so anderthalb Monate schätz ich oder so - aber da war ich ja nur als Tochter hier und nicht mit so einem Thema und nicht mit so einem ganzen Kamerateam. Ich glaub das ist jetzt schon eine andere Nummer, auch für mich. Ehrlich, also bin wirklich gespannt. Wirklich.

Meinen Eltern geht es gut. Sie haben lange als Lehrer gearbeitet. Meine Mutter hat sogar Russisch unterrichtet.

Begrüßung, Vorstellung.

Jessy Welmer: „Wie findet ihr das denn, dass ich den Film mache?“

Vater: „Im Grunde ist es schon schön, aber zur Zeit eben auch mutig, ne? Das schon.“

Jessy Welmer: Was findet ihr mutig daran? Ich hab schon ganz viel gehört. Es könnte irgendwie eine Bauchlandung geben und das ist ja ein heikles Thema und so.“

Mutter: „Weil man so oft so bisschen das Gefühl hat, dass es so diesen Mainstream, so eine Meinung gibt, aber eben nebenher nicht so viel, aber insgesamt – es gibt ja schon viele verschiedene Sichtweisen dazu.“

Jessy Welmer: „Ich frag mich ja warum die Ostdeutschen das so anders betrachten können. Das ist ja die Grundfrage.“

Vater: „Warum soll ich jetzt hassen, was ich nie gehasst habe oder… ich mein, mit diesem Krieg ist natürlich eine völlig neue Qualität entstanden und lässt uns auch zweifeln oder verzweifelt zurück, wie das passierte, wie das so weit kommen konnte.“

Mutter: „Bloß immer diese Einteilung, das sind die Bösen und das sind die Guten - also die Russen sind die Bösen und wir, der Westen, sind die Guten. Ich mein, wo soll das hinführen, wenn sich das immer noch potenziert? Wenn auch solche Worte benutzt werden ‘und nie wieder werden wir mit euch Handel treiben‘ oder was auch immer, da denk ich: ‘Wissen die, was die da sagen‘? Und das macht mir schon Angst und das tut auch ein bisschen weh, weil ich das einfach nicht begreifen kann.“

Kommentar: Meine Eltern haben ihr halbes Leben in der DDR verbracht. Dort wurde die Sowjetunion immer als großer Bruder gefeiert. Eine Sowjetunion, zu der nicht nur Russland, sondern zum Beispiel auch die Ukraine, Georgien, Aserbaidschan und Litauen gehörten. Ihre Soldaten waren als Besatzungsmacht Teil des Lebens in der DDR.

Vater: „Es war reiner Pragmatismus. Sie waren da. Wir wussten warum sie da waren: Es war das Ergebnis des zweiten Weltkrieges und wie das alles gelaufen ist haben wir in der Schule gelernt. Es gab da auch keinen Widerspruch. Sie waren die Sieger der Kriege gegen dieses blöde Nazi-Regime. Das war so unsere kindliche Vorstellung und damit haben wir gelebt.“

Kommentar: Ich war damals viel zu jung, um davon geprägt zu sein. Bei meinen Eltern spüre ich ein tiefes Unbehagen, was den heutigen politischen und medialen Umgang mit Russland seit Putins Angriffskrieg betrifft.

Jessy Welmer: „Für mich ist ja irgendwie klar, es ist irgendwie ein riesen Verbrechen sozusagen, was da passiert. Also es ist schwierig, für mich auch, zu differenzieren, weil ich ein ganz klares Bild habe. Ihr ja auch.“

Vater: „Ich glaube aber darum geht es ja nicht. Es geht nicht darum, diese Verbrechen zu rechtfertigen, sondern es geht einfach darum überhaupt erstmal Meinungen einzusammeln. Das wäre schon mal schön, wenn wir in Deutschland irgendwie wieder ins Gespräch kommen würden. Damit wir uns nicht immer so als Russland-Feinde oder Putin-Versteher positionieren müssen, sondern da gibt es dazwischen ja auch irgendwas, was Vernünftiges und wenn das dabei raus kommen würde, fänden wir das sehr schön.“

Kommentar: Viele Ostdeutsche aus der Generation meiner Eltern spüren eine kulturelle und emotionale Nähe zu Russland. Sie kennen die Filme, die große russische Literatur und nicht wenige haben die Sowjetunion zu DDR-Zeiten bereist und die Menschen dort als warmherzige Gastgeber erlebt. Das alles passt mit dem sinnlosen, brutalen Überfall auf die Ukraine nicht zusammen. Wie in einem Brennglas hat der Krieg Russlands unterschiedliche Sichtweisen vor allem bei älteren Menschen in Ost und West offengelegt.

Kommentar: Ich bin auf dem Weg zu einer engen Freundin unserer Familie, die ich immer für ihren unverstellten Blick auf die Dinge geschätzt habe.

Mühlbach Nummer Zehn, meine Heimat. Hier bin ich aufgewachsen die ersten fünfzehn Jahre und jetzt gehen wir nur ein paar Meter weiter zur Familie Odzuck. Das waren für mich immer ganz offene Leute, zehn Jahre älter als meine Eltern und mich würde einfach interessieren, was Achtzigjährige zu dem Thema sagen. Mal sehn.

Als kleines Mädchen musste Irene Odzuck 1945 mit ihrer Mutter aus dem Sudetenland vor der Roten Armee flüchten, bis es sie hierher nach Güstrow verschlug. Wie hat sie die sowjetischen Soldaten erlebt?

Irene Odzuck: „Im Grunde genommen der böse Russe und gute Russe. Der gute Russe war ja auch nach dem Krieg, gibt den Kindern Hirsebrei und weiß ich was und nimmt einen auf den Arm und der böse Russe, den haben wir eigentlich so nicht kennen gelernt.“

Jessy Welmer: „Auch nach Ende des zweiten Weltkriegs in der Nachkriegszeit nicht?“

Irene Odzuck: „Ja, weißt du, da war ich Kind.“

Jessy Welmer: „Und die Angst vorm Russen, vor Überfällen, vor Vergewaltigung?“

Irene Odzuck: „Ich nicht, aber meine Mutter ja. Wir hatten da Glück, dass wir so gut durchgekommen sind.“

Kommentar: Irene Odzuck arbeitete in der DDR als Lehererin. Die Wende war für sie ein harter Schnitt und doch hat sie die neuen Freiheiten schnell zu schätzen gelernt. Das heute viele Menschen im Osten ihre DDR-Vergangenheit nicht abschütteln können, kann sie dennoch gut verstehen.

Irene Odzuck: „Der Mensch lebt ja auch von dem, was er früher erlebt hat. Das prägt ihn ja. Das prägt ihn und du bist vierzig Jahre geprägt. Da kannst du machen, was du willst. Auch in der Schule, die Texte im Lesebuch, die waren dann ja auch Sowjetunion, sowjetische Soldaten. Du siehst ja wie lange das dauert, bis so etwas vielleicht auch rausgewachsen ist.“
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Szene des DDR-Kinderfernsehens 1968: Ein Mädchen singt: „Das größte Land, ihr wisst es schon, das nennt man die Sowjetunion. In diesem Land leb ich, Natascha nennt man mich.“
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Irene Odzuck: „Wir haben gedacht, nach der Wende, fünf Jahre, dann ist alles ähnlich.“

Jessy Welmer: „Dann sind wir alle gleich…“

Irene Odzuck: „Ja, und das ist nicht so. Du hast einfach eine andere Sozialisierung und die kannst du nicht über den Haufen schmeißen. So schnell geht das nicht. Und da sollte man auch vorsichtig sein - aus meiner Sicht - dann schnell zu sagen ’Die aus dem Osten, die ticken ja ganz anders und spinnen die?‘ Es ist so, dass du das nicht einfach ablegen kannst wie einen alten Mantel, der dir nicht mehr passt. Das geht nicht. Und dieses immernoch sagen ‘Die Russen, die können ja gar nicht so schlecht sein.‘, die Haltung denk ich, die wirst du im Osten immernoch irgendwie verstärkt vorfinden.

Jessy Welmer: „Ist das so, bei dir so, wenn du so umher kuckst?“

Irene Odzuck: „Es ist eher so, ja.

Jessy Welmer: „Weil ‘die‘ so ein bisschen sind wie ‘wir‘?“

Irene: „Vielleicht.“

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Umfrage:

Fühlen Sie sich mit Blick auf Kultur, Mentalität und Geschichte eher zu Russland oder zu den USA hingezogen?

OST: 25% zu Russland | 23% zu USA | 46% zu keinem von beiden
WEST: 7% zu Russland | 42% zu USA | 47% zu keinem von beiden

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Kommentar: Irene Odzuck erzählt mir, wie sehr ihr Mann Paul unter der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine leidet.

Irene Odzuck: „Ja, weist du es ist so: Im zweiten Weltkrieg, da war ich vier Jahre alt, als wir nach Kühlungsborn kamen. Das war für mich auch alles was wir da erlebt haben mehr ein bisschen Abenteuer. Paul, der hat es also hautnah miterlebt. Der war in Königsberg, der hat Angst vor dem Krieg. Der hat Bombengeräusch in den Ohren. Also mir wird richtig Gänsehaut. Der weiß, sie sind mit nassen Decken durch Königsberg gelaufen, haben die Bombentrichter gesehen, also der hat noch eine ganz andere Einstellung dazu.“

Jessy Welmer: „Bei dem wird das alles jetzt wieder wach.“

Irene Odzuck: „Ja, da kommt es hoch, da kommt es sehr hoch. Für mich ist das alles noch so… da war ich einfach… da machen paar Jahre was aus, dass du das nicht so wahrnimmst. Während es bei ihm… und wenn jetzt noch älter sind… da kann ich mir das gut vorstellen. Und deswegen kann ich das manchmal nicht nachvollziehen, dass die russischen Frauen, die auch den Krieg miterlebt haben und wissen was es bedeutet Männer, Brüder Söhne zu verlieren, dass die nicht auf die Straße gehen und schreien ’Mit uns nicht!‘ Also da hätte ich gedacht da gibt es einen Aufstand der alten Frauen.“
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Kommentar: Bei jedem Besuch in meiner Heimat geht es auch immer wieder um eine gefühlte Ablehnung aus dem Westen. Russland-Versteher ist so ein Wort, das man hier gar nicht mag. Ich bin in Weimar und auf dem Weg zu Silke Satjukow. Die Historikerin kennt die ostdeutsche Befindlichkeit sehr genau. Sie wurde hier geboren und forscht seit Jahren zur sowjetisch-deutschen Besatzungsgeschichte der DDR.

Silke Satjukow: „Die Ostdeutschen versuchen sich einen Reim darauf zu machen, warum Russland und Putin die Ukraine angreifen. Das sind doch Freunde, das sind doch zwei Sowjetrepubliken gewesen. Was soll denn das? Das verstehen wir nicht.“
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Szene des DDR-Fernsehens ‘Aktuelle Kamera‘ 1984: „Heute Vormittag am Treptower Ehrenmal. 700 Komsomolzen, FDJ-ler, Lenin- und Themenpionieren ehren das Andenken der im Kampf gegen Faschismus und im Krieg gefallenen Helden. Sie sind Teilnehmer am Freundschaftszug UDSSR-DDR und kommen aus Donetsk, Kiev, Saporoschschje und den Partnerstädten Magdeburg, Halle und Leipzig.“
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Silke Satjukow: „Die Erzählung also ist, Russland oder die Sowjetunion ist auf der Siegerseite der Geschichte. Sie haben im Großen Vaterländischen Krieg gelitten. 27 Millionen Tote sind nicht von der Hand zu weisen, das haben die Ostdeutschen kapiert und dass sie schuld sind an den 27 Millionen Toten, das haben sie auch kapiert. Sie haben also eine Schuld abzutragen. Jeder Kleine hat das schon gehört. Jeder Kleine hat Blumen auf ein sowjetisches Grab getragen. Das ist alles im Kopf und in den Herzen.“
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Kommentar: Ich treffe Gregor Gysi, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag und seit Jahrzehnten sowas wie der oberste Osterklärer.

Jessy Welmer: „Ja, jetzt kommen Sie hier gerade aus der amerikanischen Botschaft, da liegt natürlich so ein bisschen nah in diesen Zeiten, dass auch über Russland gesprochen wurde. Ist das so?“

Gregor Gysi: „Wir haben mehr über Deutschland und die USA gesprochen, aber wir haben auch gesprochen über eine eventuelle neue Blockkonfrontation China und Russland gegen die USA und Andere oder China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika - das ist völlig idiotisch aber wahr, das im kalten Krieg - trotz des Vietnamkriegs, trotz des Afghanistankriegs der Sowjetunion, trotz des Einmarsches 1968 in der CSSR, die Situation stabiler war als heute und die Frage ist, wie kommen wir wieder zu Stabilität?“

Kommentar: Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 22 erschüttert auch die Gewissheiten Gysis. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er oft die russische Perspektive verteidigt.

Jessy Welmer: „Was hat der Beginn des Krieges bei Ihnen ausgelöst?“

Gregor Gysi: „Ja, das war ein richtiger Bruch für mich.“

Jessy Welmer: „Der Bruch?“

Gregor Gysi: „Ich habs auch nicht geglaubt und es war ein großer, großer Fehler von Putin und der gesamten russischen Führung.“

Kommentar: Gysi verurteilt den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wesentlich eindeutiger, als viele andere Mitglieder seiner Partei. Die allermeisten Menschen im Osten sind zwar gegen den Krieg, doch zu einem klaren Bruch mit Putins Position können sich viele nicht durchringen.

Jessy Welmer: „Warum schaffen viele Leute aus meiner Heimat, aus Ostdeutschland, aus meiner Elterngeneration nicht zu sagen ‘Ich lass jetzt mal los.‘ oder ‘Ich ändere meine Meinung.‘?“

Gregor Gysi: „Wenn wir zwischen Putin und der russischen Bevölkerung unterscheiden könnten…, die hängen ja nicht wirklich an Putin, der ist ihnen ja egal, aber sie hängen irgendwie an der russischen Bevölkerung - und das versteh ich nun wieder. Und da mach ich ja auch den Unterschied und deshalb sag ich ja: Sanktionen gegen die Führung - ja, gegen die Oligarchen - ja, nicht gegen die Bevölkerung, die den Krieg nicht beschlossen hat.“

Jessy Welmer: „Aber wenn ich Gespräche führe, dann hab ich manchmal den Eindruck, einige versuchen Putins Verhalten zu erklären und damit ja das Verhalten eines Täters. Und ich frage mich warum sie sich überhaupt in diese Situation begeben.“

Gregor Gysi: „Wenn du eine grundsätzliche Antihaltung zur NATO und zum Westen hast, dann versuchst du…, du willst doch deine Ideologie nicht einschränken. Du willst doch nicht unrecht gehabt haben. Ergo suchst du dir immer Erklärungen und sagst ‘Ja, was hat der Westen alles Schlimmes und Falsches gemacht, was den Putin dazu gedrängt hat.‘

Jessy Welmer: „Aber das ist der Ost-West-Konflikt jetzt sozusagen im Großen.“

Gregor Gysi: „Auch. Im Großen, aber nicht nur das - es ist auch in meiner Partei. Ich versteh doch… du hast eine bestimmte These, die unterstützt du. Du hast auch immer Recht erstmal, plötzlich hast du Unrecht. Hm. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit ist, du sagst ‘Tut mir leid, ich habe mich geirrt, es ist anders.‘ oder ich sag ‘Naja, aber das ist ja nicht wirklich anders. Es stimmt ja wieder was‘ und so rettet man in Wirklichkeit nur sich selbst mit seiner eigenen Ideologie.

Jessy Welmer: „Ist ja ein starkes Motiv.“

Gregor Gysi: „Was ich denen im Westen immer sage: ‘Wenn ihr die sowjetische Besatzungsmacht gehabt hättet und wir hätten die drei Westmächte gehabt in der kleinen DDR, dürft ihr Eins nicht unterschätzen: Dann wärt ihr geworden, wie die Ossis und wir wie die Wessis.“

Kommentar: Man ist also immer das Resultat seiner Biografischen Prägung? Grundsätzlich ist das sicher so, doch gilt das uneingeschränkt? Was ist, wenn sich Überzeugungen als Irrtümer heraus stellen? Warum will man dann trotzdem unbedingt an ihnen festhalten?
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Kommentar: Meine Reise führt mich weiter in den äußersten Nordosten, nach Lubmin. Hier enden die Gaspipelines Nordstream 1 und 2. Heute Symbole verfehlter deutscher Energiepolitik.

Ich bin verabredet mit dem lokalen Politiker Frank Tornow. Er ist Mitglied der SPD, die immerhin den Bundeskanzler stellt. Wie findet er es, dass in Lubmin kein russisches Gas mehr ankommt und wie gehen die Menschen hier damit um?

Jessy Welmer: „So, Herr Tornow, was haben Sie vor?“

Frank Tornow: „Ja, kurz entschlossen ich hab Stühle mitgebracht und Tisch mitgebracht, ich würde Sie bitten, mit anzupacken.“

Jessy Welmer: „Wirklich? Ich baue hier ein Kaffeekränzchen auf, zwischen Nordstream 1 und Nordstream 2. Nein, das gibt’s nicht, ich werd verrückt. Herr Thornow!“

Frank Tornow: „Jo, Frau Welmer, so sind wir hier an der Küste.“

Jessy Welmer: „Sie sitzen schon in meiner Blickrichtung zu Nordstream 2. Halten Sie es für richtig, dass es nicht freigegeben wurde?“

Frank Tornow: „Ich seh es ein bisschen anders. Gas könnte ja jetzt, von jetzt auf nanu, dort kommen aus Russland. Ja, es ist so, die große Politik hat entschieden und jetzt müssen auch die Bürger dementsprechend, ja, sehen, wie wir damit klar kommen.“

Jessy Welmer: „Was sind denn genau die Probleme, die die Leute mit denen Sie sprechen oder mit denen Sie persönlich vielleicht auch erleben jetzt?“

Frank Tornow: „Ja, man muss sich darauf einstellen, dass die Gaspreise um das Drei- oder Vierfache steigen. Das schafft Verunsicherung. Die Leute suchen sich Lösungen. Die versuchen - watt weiß ich - noch Kamine einzubauen, die versuchen wieder mit Kohle zu heizen. Vieles was wir vorher eigentlich nicht wollten bevor der Konflikt war, was nicht mehr sein sollte aufgrund des Klimawandels, wird jetzt wieder gemacht.“

Jessy Welmer: „Ist es vielleicht auch der Preis, den wir einfach zahlen müssen, dafür dass Wladimir Putin ein Verbrechen begeht?“

Frank Tornow: „Es ist ja jetzt auf europäischer Ebene und darüber hinaus das Zeichen gesetzt worden, dass wir die Sanktionen durchziehen wollen. So. Jetzt ziehen wir diese durch und hoffen praktisch, dass das dazu führt, dass der Krieg beendet wird. Jetzt ist die Frage, was hat das jetzt bis jetzt gebracht? Und das muss man auch mal hinterfragen. Die Ostdeutschen, die Bürger, glauben manchmal nicht mehr, dass sowas so gebracht wird in den Medien, deswegen…“

Jessy Welmer: „Wie geht es Ihnen?

Frank Tornow: „Ich hab auch meine Probleme, sag ich Ihnen ganz ehrlich.“

Jessy Welmer: „Und wer sind die Medien?“

Frank Tornow: „Auch die Öffentlich-Rechtlichen.“

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Umfrage:

Wird aus Ihrer Sicht über Russland ausgewogen, zu positiv oder zu negativ berichtet?

OST: 33% zu negativ | 37% ausgewogen | 8% zu positiv
WEST: 23% zu negativ | 45% ausgewogen | 12% zu positiv

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Kommentar: [Text verloren/nachfügen]… nicht mehr zu trauen sei, kenne ich aus zahlreichen Gesprächen. Doch was heißt das jetzt konkret für diese Situation hier? Ich arbeite ja immerhin selbst für einen öffentlich-rechtlichen Sender.

Jessy Welmer: „Glauben Sie auch dass ich einem Meinungsmainstream…, also dass ich Druck von oben kriege, wie ich mich zu äußern habe? Würde mich interessieren. Oder glauben Sie, ich merke es vielleicht auch nicht mehr? Das kann ja sein.

Frank Tornow: „Also ich glaube es aufgrund Ihrer Fragestellung vielleicht nicht unbedingt, muss ich ganz ehrlich sagen.“

Jessy Welmer: „Aber Sie können es auch nicht wissen.“

Frank Tornow: „Ich kann es auch nicht wissen. Sie können es mir sagen.“

Jessy Welmer: „Ja, also ich kann Ihnen ganz klar sagen, mich hat noch nie jemand dazu gebracht eine andere Meinung zu vertreten, als meine eigene in meiner Arbeit.“

Frank Tornow: „Das ist schön. Wenn es so ist, dann ist es ja gut. So soll es auch sein.“

Jessy Welmer: „Überzeugt Sie das?“

Frank Tornow: „Ich glaube Ihnen.“

Jessy Welmer: „Aber den Glauben an die Medien haben Sie trotzdem verloren?“

Frank Tornow: „In bestimmten Bereichen, ja.“

Kommentar: Nach dem Interview versichert mir der SPD-Lokalpolitiker noch, dass er nicht der Einzige in Lubmin ist, der so denkt. Das Unbehagen gegenüber den Medien würden viele Menschen hier haben.
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Kommentar: Ich bleibe im Norden, fahre 40 Kilometer weiter und treffe einen Mann, der 18 Jahre lang als Offizier in der Nationalen Volksarmee der DDR diente und von dem ich weiß, dass er sich heute ganz klar pro-russisch positioniert. Reinhard Bartz ist ein alter Bekannter meiner Eltern. Obwohl wir uns noch nie begegnet sind, begrüßt er mich, als würden wir uns schon seit Jahren kennen.

Jessy Welmer: „Hallo, Guten Morgen.“

Reinhard Bartz: „Morgen Jessy, Moin Moin“.

Jessy Welmer: „Morgen Herr Bartz, schön dass es geklappt hat.“

Reinhard Bartz: „Dürfen wir uns umarmen? Sie könnten meine Tochter sein.“

Jessy Welmer: „Ich glaube, das könnte ich, aber wir wollen ja auch viel reden.“

Kommentar: Es dauert nur ein paar Augenblicke, da kommt Reinhard Bartz auf die aktuelle politische Situation zu sprechen, mit einer Wortwahl, die mich befremdet.

Reinhard Bartz: „Mich beunruhigt das stark, wenn ich eine Außenministerin heute vor amerikanischen Studenten davon labern höre, dass Deutschland doch nun endlich wieder eine Rolle militärisch spielen solle. Und davon faseln durfte, dass Deutschland doch nun endlich wieder seine politischen Ziele mit militärischen Mitteln durchsetzen können soll.“

Jessy Welmer: „Also Sie sagen ja ‘faseln‘ und ‘labern vor amerikanischen Studenten‘, das ist ja so ein bisschen das Feindbild Amerika für Sie?“

Reinhard Bartz: „Ja, das ist mein Feindbild, ja. Für uns war immer die Sowjetunion das Gute. Wir haben eine Liebe zur Sowjetunion entwickelt, die eben bis heute nachwirkt. Hinsichtlich des Nachfolgers der Sowjetunion, Russland. Russland ist für uns immernoch symbolisch der Garant des Friedens. So haben wir das gelernt.“
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Szene des DDR-Films ‘Mit der Jugend, für die Jugend‘: „Am 9. Oktober 1974 im Berliner Friedrichstadtpalast. Freundschaftsmeeting der Jugend der DDR mit sowjetischen Helden des großen vaterländischen Krieges in Anwesenheit von Erich Honecker.“ „Alles was wir sind, sind wir durch sie. Durch die Befreiungstaten der Sowjetunion und durch die kluge Politik unserer sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.“
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Reinhard Bartz: „Wenn es die Provokationen, diese massiven Provokationen seitens des Westens nicht gegeben hätte, würde es diesen Krieg nicht geben.“

Jessy Welmer: „Und führt der der Westen eigentlich eher den Krieg, was glauben Sie?

Reinhard Bartz: „Ich glaube, es ist ein Stellvertreterkrieg. Ein Stellvertreterkrieg für die USA.“

Kommentar: Die USA als Kriegstreiber und Russland als Friedensmacht. Das ist eine Sichtweise auf den Krieg, die ich nur schwer ertragen kann. Aber es ist Bartz‘ Blick auf die Geschichte. Dass wir uns hier in Peenemünde treffen, ist seine Idee. Ganz in der Nähe war er in den Achtziger Jahren als junger Leutnant der NVA stationiert. Von hier aus reiste er als Offiziersschüler zur Ausbildung in die Sowjetunion. Ganz offensichtlich wirkt das bis heute nach.

Jessy Welmer: „So, und diese fünf Monate in Russland und alles was daraus folgte, die Freundschaften haben Sie immer mitgenommen, sozusagen immer im Herzen getragen.“

Reinhard Bartz: „Ja, die wirken bis heute nach und für mich ist Russland der Sympathieträger. Da tue ich mich sehr schwer, gebe ich zu, bei ihm hegemoniale Absichten zu erkennen.“

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Umfrage:

Stellt Russland gegenwärtig eine Bedrohung für die Sicherheit der Welt dar?

OST: 20% auf keinen Fall/eher nein | 77% auf jeden Fall/eher ja
WEST: 11% auf keinen Fall/eher nein | 88% auf jeden Fall/eher nein

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Kommentar: Reinhard Bartz Russlanderfahrungen liegen Jahrzehnte zurück. An den Feindbildern von damals hält er bis heute fest. Feindbilder die mir völlig fremd sind. Er kommt auch auf das Bild zu sprechen, das in den Medien von der DDR gezeichnet wird.

Reinhard Bartz: „Wenn ich zum Beispiel eine Sendereihe mir anschaue, die nennt sich ‘Zeitreise‘, wo in auffallender Häufigkeit die DDR immer im negativen Kontext dargestellt wird, wenn ich anhand dessen mein Bild von der DDR mir machen müsste, dann hätte ich in einem Horrorfilm gelebt: Die Kinder wurden zwangsadoptiert, Jugendliche wurden in Heime gesteckt und dort gefoltert und gefehlt - das mag es alles gegeben haben, aber ich kann doch einen Blick zurück nicht anhand ausschließlich solcher Bilder machen. Und da fühlen sich eben viele Ostdeutsche in ihrer Realität, in ihrer Lebensgeschichte nicht wieder. Man beraubt sie ihrer Lebensleistung.“

Jessy Welmer: „Und wenn Umfragen ergeben, dass viele Ostdeutsche nicht mehr an die Demokratie glauben, was fangen Sie mit dieser besonderen Umfrage an? Stellen Sie das in Frage, erwidern Sie was?“

Reinhard Bartz: „Ich würde das auch so sehen.“

Jessy Welmer: „Aus persönlicher Sicht, heißt das?“

Reinhard Bartz: „Ja, meine Sicht, das was wir erleben, ist keine echte Demokratie mehr.“

Kommentar: Ein Satz der mich erschreckt. Wie kann das sein, dass Menschen in meiner Heimat nicht mehr glauben, in einer Demokratie zu leben?

Dazu Silke Satjukow: „Ich glaube dass die Ostdeutschen gerade - genauso wie die Westdeutschen - versuchen zu verstehen, was passiert. Und sie greifen dafür auf biografische Prägungen zurück und die biografischen Prägungen der älteren Generationen der DDR sind ganz eindeutig gegen den Westen gewesen. Es ist ja alles weggebrochen 1989.

Alle Denkmuster sind weggebrochen, alles, plötzlich. Der Alltag brach zusammen, Autoritäten gab es nicht mehr - dann kam die Arbeitslosigkeit. Häuser, Wohnungen mussten aufgegeben werden und dann kam noch eine Krise Ende der Neunziger, die mit Digitalisierung und Globalisierung zusammen hing - wo die Ostdeutschen auch nicht vorbereitet waren. Und sie haben lange gewartet sich zu Wort zu melden, es hat Jahrzehnte gedauert und das tun sie jetzt aber lautstark, oft auch anti-westlich, bisweilen sogar anti-liberal, weil liberal bedeutet ’alles geht‘ und sie haben doch gemerkt in den Neunzigern: Nein, es ging nicht alles, das stimmt ja gar nicht.
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Kommentar: Die Insel Rügen. Ich fahre zu Uwe Hassbecker. Gitarist der legendären Band ‘Silly‘, mit der früh verstorbenen Sängerin Tamara Danz. Hassbecker kennt noch die Sowjetunion von unzähligen Band-Auftritten. Sein Schock über den Angriff Russlands auf die Ukraine hat er ein paar Wochen nach Kriegsbeginn in der Berliner Zeitung öffentlich gemacht.

Jessy Welmer: „Ah ja, da ist schon jemand aktiv. Hallo Herr Hassbecker, freut mich. Da haben Sie sich ja ein schönes Fleckchen Erde hier ausgesucht.“

Uwe Hassbecker: „Hallo, Guten Tach, willkommen hier, ja.“

Jessy Welmer: „Als diese Nachricht vom 24.2. kam, war das Fassungslosigkeit, war das erstmal ein großer Schmerz, war das ein Bruch, also wie lässt sich das…?“

Uwe Hassbecker: „Fassungslosigkeit. In erster Linie war das Fassungslosigkeit, weil ich hab nicht verstanden ’Warum?‘. Ja, das war in meinem Leben eigentlich nicht mehr vorgesehen, so ein Krieg, ganz mal zu schweigen von denen die betroffen sind in dem Land. Er hat ja sozusagen das Blaue vom Himmel gelogen oder wie sagt man, indem er, der Putin, immer wieder betont hat, es wird keinen Krieg geben.“

Jessy Welmer: „Ja, und waren Sie auch bereit ihn vorher, bevor das passiert ist, mal zu verteidigen auch, gegen die, die komplett anderer Meinung / komplett anderer Richtung kamen, als aus Ihrer Sicht?“

Uwe Hassbecker: „Na, ‘verteidigen‘ ist vielleicht zuviel gesagt, ja, ich habe versucht zu verstehen, ja. Es lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass sozusagen in den letzten 20/30 Jahren die NATO sich durchaus gen Osten erweitert hat. Stück für Stück. Nun ist das natürlich das gute Recht der jeweiligen Länder sich einem anderen System anschließen zu wollen. Darf ich mich mal zu Ihnen setzen? Da kann ich nicht nebenbei bauen.“

Jessy Welmer: „Na klar.“

Uwe Hassbecker: „Ich muss sagen, ich bin eigentlich ganz froh, dass ich vor einer Kamera oder wo auch immer sagen kann was ich möchte, ohne dafür drakonische Strafen fürchten zu müssen. Und das ist eben in Russland nicht mehr möglich. Und naja, und Geschichten um Nawalny und viele andere Oppositionelle in Russland, das kennt man ja und ich finde das entsetzlich. Ich fühl mich eigentlich ganz wohl hier, das muss ich sagen.“

Kommentar: Er lädt mich zu einer kleinen Bootstour ein und wir reden weiter. Ich frage Uwe Hassbecker, was er von den Waffenlieferungen an die Ukraine hält.

Uwe Hassbecker: „Es bereitet mir Unbehagen, wenn ich jetzt sozusagen lese, dass Deutschland Waffen liefert, die gegen Russland eingesetzt werden. Auf der anderen Seite muss man sagen: ‘Man kann die Ukrainer nicht im Regen stehen lassen.‘ Geht nicht. Wenn die damals Hitler nicht gestoppt hätten, was wäre denn dann gewesen? Die Alliierten. Eine blutrünstige Bestie, die muss man irgendwie stoppen.“

Jessy Welmer: „Aber das bedeutet ja, am Ende kommt es nicht zusammen, das bedeutet Zerrissenheit.“

Uwe Hassbecker: „Es kommt nicht zusammen. Ich fühl mich auch wohler, wenn sozusagen vor den Waffenlieferungen das Label ’EU‘ steht und nicht ‘Deutschland‘.
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Kommentar: Dresden. Ich bin mit einer Journalistin der Leipziger Volkszeitung verabredet. Antonie Rietzschel wurde 1986 in Sachsen geboren. Wir beide sind eine Generation. Eine Generation, die größtenteils einen ganz anderen Blick auf Russland hat, als ihre Eltern.

Jessy Welmer: „Könnten Sie denn so sagen, für sich, was ist Russland im Moment?

Antonie Rietzschel: „Im Moment? Im Moment ist Russland ein Land mit dem ich mich mal wohl gefühlt habe auch, in dem ich auch mal gearbeitet habe, in dem ich für eine kurze Zeit gelebt habe und auch Freunde habe, aber halt jetzt erleben musste in den letzten Monaten, was ich halt nicht für möglich gehalten habe, also dass es brutal ein anderes Land also halt ja überfällt und dass Freunde von mir fliehen müssen. Ich hab mich da irgendwie auch wohl gefühlt und wie passt das alles jetzt zusammen? Kompliziert.“

Jessy Welmer: „Ja, total komplex. Und es ist ja irgendwie der Versuch das Rätsel für sich aufzulösen. Uns geht’s da so mit der WM 2018 und alle haben über Katar andauernd gesprochen, alle Jahre, und Russland die WM ist irgendwie so an uns vorbei gezogen und im Nachhinein denkt man sich ’Wie geht das? Wie konnte das passieren?‘“

Kommentar: Antonie Rietzschel kritisiert eine Ignoranz des Westens und gegenüber ostdeutschen Lebensläufen und sie beklagt, dass sich viele Menschen hinter ihrer Ostidentität verschanzen und sich ein Teil der Mittelschicht zunehmend radikalisiert.

Antonie Rietzschel: „Dann überhaupt, ein Gefühl, was in der letzten Zeit sich hier stark durchgesetzt hat, ist so dieses ’Okay, die Bundesregierung trifft diese Entscheidung da oben in Berlin, dann sind wir halt dagegen.‘ Dann erzählt man ’Ja, okay, wir hatten ja immer schon so’n besonderes Verhältnis zu Russland.‘. Das ist so eine Fortsetzung einfach, von ’Wir gegen die da oben. Wir leisten Widerstand. Wir denken anders. Wir werden nicht gehört.‘“

Jessy Welmer: „Also ist nicht nur der Krieg der Booster, der zur Radikalisierung beigetragen hat, sondern würden Sie sagen auch andere Dinge führten zur Krise wie Pandemie oder vielleicht auch die Flüchtlingskrise?“

Antonie Rietzschel: „Natürlich. Diese ganzen Demonstrationen, die auch genutzt wurden von der AfD, von den Rechtsextremen und das alles, was man halt von da schon gesehen hat ist… jetzt kann man halt fragen ’Warum machen das die Leute? Wird denen jetzt was weggenommen?‘“

Kommentar: Das nun einige Menschen im Osten bei ihren Protesten gegen die Politik der Bundesregierung plötzlich ihre Freundschaft zu Russland entdecken, ist für Rietzsche auch Resultat einer nicht geführten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Antonie Rietzschel: „Natürlich soll man darüber diskutieren, was wohl in der Vergangenheit falsch gemacht wurde. Das muss man aufarbeiten, natürlich. Aber dann müssen das auch die Ostdeutschen für sich aufarbeiten. Dann müssen ostdeutsche Politiker aufarbeiten. Dann müssen auch Ostdeutsche anfangen, ihr eigenes Geschichtsbild zu hinterfragen. Das könnte ich genauso verlangen. Ich könnte sagen ’Naja, setzt euch mal mit eurem Geschichtsbild auseinander, das ihr eigentlich von Russland und von der Sowjetunion habt.‘“

Kommentar: Vielen Menschen im Osten geht es mittlerweile eigentlich gut. Wieso eigentlich wird so wenig thematisiert, was wir alles erreicht haben? Es ist eine Frage, die auch Antonie Rietzschel beschäftigt.

Antonie Rietzschel: „Dass ich jetzt Angst habe, dass alles wieder zu verlieren, okay, ja, das verstehe ich, aber dass man erstmal sagt ’Hey, wir haben in den letzten 30 Jahren was krasses geschafft hier. Ich hab was persönliches geschafft hier. Ich hab meine Firma aufgebaut.‘ - oder was weiß ich - ‘Ich habe mir mein Haus gebaut oder ich habe meine Kinder groß gezogen und da bin ich stolz darauf.‘ - und das höre ich ehrlicherweise viel zu wenig.“

Kommentar: Zunehmend gehen hier in Dresden und anderswo im Osten Menschen auf die Straße. Es sind Demonstrationen, die auch von der AfD und rechtsextremen Gruppierungen unterstützt, oft sogar initiiert werden.

Dazu Silke Satjukow: „Die Neunziger schaffen eine Atmosphäre der Kränkung und aus dieser Zeit stammen viele Aversionen, Problematiken, die jetzt unter den Bedingungen von SocialMedia - das sich selbst verstärkende Internet. Jedermann kann jetzt etwas sagen, ohne dass es geahndet wird. Jetzt brechen sie sich Bahn, diese Kränkungen, Ängste, Traurigkeiten, Wut, usw..“

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Kommentar: Warum demonstrieren hier Menschen auch für einen anderen Umgang mit Russland?

Spontane Interviews mit Bürgern auf der Straße Dresdens:

Eine Bürgerin: „Und welcher Sender?“

Jessy Welmer: „ARD. Ich bin freie Journalistin da.“

Die Bürgerin: „Das lassen wir lieber. (Durcheinandergerede). Nene, die verdrehen zuviel.“

Kommentar: Ich versuche mein Anliegen zu erklären, doch es ist ganz offensichtlich, dass mir als Journalistin viele hier mit Misstrauen begegnen.

Jessy Welmer: „Mich würde interessieren, warum Sie hier sind. Also ganz offen, ganz frei.“

Eine von drei Bürgerinnen: „Warum wir hier sind? Weil wir den Eindruck haben, also ich den Eindruck habe, dass unsere Regierung dieses Land an die Amerikaner verkauft. Ich komme mir vor, als wollten die den 51ten Staat aus uns machen, uns Europäer und das sehe ich nicht ein.

Jessy Welmer: „Sind Sie der Meinung, dass Russland den Weltfrieden bedroht?“

Die Bürgerin: „Nein. Nein, finde ich nicht. Wenn die USA sich nicht eingemischt hätte in der Ukraine, dann wär das soweit gar nicht gekommen. Das ist meine Meinung.“

Jessy Welmer: „Sollte man die Sanktionen aufheben gegen Russland?“

Die Bürgerin: „Man sollte darüber diskutieren. Waffen bringen für meine Begriffe keinen Frieden. Frieden kommt nur durch Verhandlungen.“

Kommentar: Mit der Forderung der Aufhebung der Sanktionen stehen die drei Frauen nicht alleine da.

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Umfrage:

Sind die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland angemessen, gehen sie zu weit oder nicht weit genug?

OST: 35% zu weit | 25% angemessen | 25% nicht weit genug
WEST: 21% zu weit | 32% angemessen | 38% nicht weit genug

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Kommentar: Immer wieder begegnet mir auch hier die tief sitzende Skepsis gegenüber den Amerikanern. Oder sollte man lieber gleich sagen ‘dem Westen‘ gegenüber? Zugleich scheinen hier nochmal ganz eigene besondere Befindlichkeiten zu existieren.

Ein Bürger: „Ja, wir haben immer gerne die Ohren und Augen nach Russland aufgemacht, wie schon immer die Sachsen. In den Napoleon-Kriegen waren die Sachsen immer auf Seiten der Russen, gegen Frankreich, also wir haben denk ich mal von der Geschichte her eine Verbindung zu Russland. Schon immer gehabt und warum sollte die kaputt gehen? Dass wir den Krieg nicht gutheißen, das ist eine andere Frage.“
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Jessy Welmer: „Ich versuche ja zu verstehen, warum so viele Leute aus meiner älteren Generation so ticken wie sie ticken und ich komme immer wieder an den Punkt und zu der Frage, warum dieser Angriffskrieg sie nicht über ihren Schatten springen lässt.“

Dazu Silke Satjukow: „Sagen wir es mal so: In Krisenzeiten und in Kriegszeiten tendieren Menschen dazu die Komplexität zu reduzieren und wenn jetzt der undenkbare Angriff - der ja für die meisten Ostdeutschen ja auch undenkbare Angriff - passiert, dann versuchen sie sich das zu erklären. Und es gelingt ihnen nur in den Stereotypen ihrer Biografie und die heißen ‘Die NATO ist aggressiv, sie greift an und wir müssen uns verteidigen.‘ Das ist das, was sie gelernt haben.“
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Kommentar: Ich bin auf dem Weg ins Kanzleramt zum Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Karsten Schneider, einen gebürtigen Erfurter.

Karsten Schneider: „Ich bin ja immer im Osten geblieben. Habe in Berlin und in Erfurt immer gelebt. Von daher bin ich nie rausgekommen aus der ehemaligen DDR, aber ich fand die Zeit, dass ich beide Systeme kennen gelernt habe und nicht nur mit dem goldenen Löffel aufgewachsen bin. Das fand ich schon eher einen Vorteil für mich gegenüber meinen Kollegen im Bundestag.“

Jessy Welmer: „In meinen Gesprächen haben auch einige zugemacht wenn es um die Medienberichterstattung über den Krieg jetzt geht. Dass sie sagen ’Das ist mir zu einseitig.‘. Sehen Sie das auch so?“

Karsten Schneider: „Ich bedaure das sehr, dass viele Ostdeutsche das Vertrauen in die Medien verloren haben und ich glaube das hat ein bisschen auch was mit einer Selbstreferenz zu tun, so um sich selbst zu drehen. Und Pluralität, also andere Meinungen auch zuzulassen und nicht als das Gefühl zu haben, man dürfte das nicht sagen – man darf ja hier alles sagen in diesem Land, man kriegt nur auch einen Widerspruch. Das ist ja auch gut.

Jessy Welmer: „Die glauben ja nicht mal an die Pluralität. Viele.“

Karsten Schneider: „Viele sind auch leider in einer Informationsblase drinnen von sehr rechten, teilweise auch von russlandgesteuerten Kanälen und nehmen das für ernst. Da fehlt so ein bisschen die Quellenkritik und es kommt noch ein bisschen glaube ich das Erbe der DDR noch dazu, dass man zwischen den Zeilen lesen musste und dachte - und denkt - das ist jetzt, wenn was in der Zeitung steht, immernoch so. Aber es ist ja nicht mehr so. Ich sag mal zu Russland: Keiner glaubt doch im Ernst, dass der Putin ein guter Mann ist. Und ich glaube auch kaum, dass irgendeiner in Ostdeutschland unter russischem Joch leben möchte, dass Moskau bestimmt, was wir zu tun und zu lassen haben. Das ist aber bisschen auch so eine Sache, aus der Komfortzone raus gehen und sich der Frage stellen.“

Kommentar: Klar ist, dass die Politik lange Zeit die Entwicklungen im Osten, die Prägungen, Ängste und Sorgen der Menschen dort nicht genügend wahrgenommen hat. Trotz Milliarden-Transfers und Ost-Beauftragten.

Karsten Schneider: „Es hat sich ein stärkeres Bewusstsein ostdeutsch zu sein herausgebildet und das setzt sich einfach darauf auf. Weil ich glaube dass viel auch mit Heimatverbundenheit, bisschen auch mit Identität, aber auch mit Anerkennung und Respekt für die enormen Brüche, die es gegeben hat, aber eben auch für den Mut sein Leben einfach in die Hand zu nehmen.“

Jessy Welmer: „Wenn Sie für den Osten sprechen, dann liegt ja auch der Gedanke nahe, dass es ’Die Ostdeutschen‘ gibt. Gibt es ‘Die Ostdeutschen‘?“

Karsten Schneider: „Nein. Ich glaube sogar, dass sich die Prägung ’ostdeutsch‘ eher nach der Wende ausgeprägt hat und gar nicht so sehr vorher. Die Erfahrung der 30/32 Jahre nach der Wende. Also Brüche, von jemand der mit 35 Jahren Ingenieur war, mitten im Leben stand und dann vier ABMs machen musste oder als Hilfsarbeiter irgendwo angefangen hat, das sind ja auch Demütigungserfahrungen.“

Jessy Welmer: „‘Ist es wirklich nur das, was nach der Wende passiert ist?‘ frage ich mich nach meiner Reise. Ich war vier Wochen unterwegs, bin sehr unterschiedlichen Menschen begegnet. Ich habe gelernt, dass die Sicht auf das heutige Russland eng verknüpft ist mit der eigenen Geschichte und den Erfahrungen vor und nach 1990. Es gibt nicht ‘Die Ostdeutschen‘. Genauso sind nicht alle Menschen hier sogenannte Russland-Versteher. Auch ich bin Ostdeutsche. Doch vor allem bin ich ein Kind des wiedervereinigten Deutschlands, ganz im Gegensatz zu der Generation meiner Eltern. Ich finde es wichtig, dass wir uns zuhören und einander ernst nehmen, aber ich möchte die Bitterkeit nicht erben. Denn ich glaube nicht dass sie uns hilft bei all den Problemen, die wir gerade haben – im Osten genauso wie im Westen.“

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Das Posting wurde vom Benutzer editiert (30.10.2022 22:01).

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