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  • INT_MIN

889 Beiträge seit 18.05.2020

Re: Ein perfekter Systemhystœriker?

Porcupine17 schrieb am 21.06.2021 12:56:

INT_MIN schrieb am 21.06.2021 09:40:

Porcupine17 schrieb am 21.06.2021 08:45:

INT_MIN schrieb am 21.06.2021 03:30:

Obwohl es in naturwissenschaftlichen Fächern heißt, daß Kenntnis der Literatur vor Neuentdeckungen schützt, ist den Systemhysterikern der Dank der Relotius-Chefredaktionen und die Anerkennung ihrer transatlantischen Seilschaften für bahnbrechende Neuinterpretationen absolut sicher. Obendrein bekommt die Bundeszentrale für Politische Bildung einen konstanten Strom an Nachschub bei der Versorgung immer neuer Schülergenerationen mit geschichtsklitterndem Material, nebst Abfall für Claus Kleber und Co.

Win-Win-Win!!1
_________

Danke an Gaby Weber für die herausragende Recherchearbeit!

Sorry, aber jetzt kippst du das Kind mit dem Bade aus. Beschäftige dich mal z.B. mit der Geschichte der Geschichtsschreibung der Schlacht von Midway. Da wurde in den letzten 15 Jahren die Legende vom "wundersamen" Sieg dank der "5 Minuten von Midway", welche die Elite der japanischen Piloten auslöschte, gründlichst zerlegt (such mal nach dem Buch "Shattered Sword"). Letztendlich basierte diese Legende auf den Erzählungen von nur zwei japanischen Offizieren (Fuchida und Kunisada), welche z.B. behaupteten eine startbereite japanische Angriffswelle hätte lange Zeit an Deck der Flugzeugträger gestanden. Rückblickend kann man sich nur fragen wie diese in vielen Punkten offensichtlich falsche Erzählung (die Träger tauschten regelmäßig ihre Luftkampfpatrouillie aus, das braucht leere Decks zum Starten und Landen) trotz zahlreicher Widersprüche kein US-Pilot sah Maschinen an Deck, es gibt sogar bei Angriffen geschossene Photos die leere Decks zeigen) so lange Bestand haben konnte. In Japan wussten die Historiker schon seit den 70ern das Fuchida Quatsch erzählte, aber aufgrund der Sprachbarriere blieb diese Information lange Zeit in Japan "hängen". Und bis heute frustriert es US-Historiker, dass das offizielle japanische Geschichtswerk Senshi Sosho (102 Bände zwischen 1966 und 1980) kaum übersetzt ist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Senshi_S%C5%8Dsho

Ich halte es auch mit Blick auf die Entwicklung der Sichtweise der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (weg von "haben den Krieg beendet" und hin zu "Demonstration gegenüber der Sowjetunion") für Falsch "bahnbrechende Neuinterpretationen" aus Prinzip abzulehnen.

Moment. Gerade mit diesen Beispielen und insbesondere mit dem letzten zeigst du doch, daß sich grundsätzlich die unveränderte "Kreml-Propaganda" als näher an der Wahrheit zeigt, als die "offizielle amerikanische Geschichte" im Wandel der Zeit. ("offiziell" ist auf einer Ebene mit "herrschender Meinung".)

Die Russen haben immer kolportiert, daß der Atombombenabwurf militär-strategisch völlig sinnlos war. Es gibt also sehr wohl Konstanten. Die Frage ist doch, wie sich die "herrschende Meinung" damit abfindet, oder ob sie sich windet und lieber neue Fakten dazuerfindet, wie es gerade zur geopolitischen Agenda paßt.

Man kann sehen, wenn man sehen will. Das hängt bei uns im Westen stark von politischer Opportunität — und als Student eines Laberfachs — von den Karriereaussichten ab und umgekehrt. Ich wollte mit meinem Post eben das verdeutlichen und auch sagen, daß der der zahlt auch die Musik bestellt. Geschenkt, daß die KAS mit ihrer Anti-Russen-Hetze ("Alle Wege führen nach Moskau") ein Laden mit ungebrochener Tradition ist.

Da würde ich mich einer abschließenden Meinung (wer jetzt recht hat oder nicht) enthalten. Beispiel ist da für mich wie Historiker mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs umgegangen sind. Da hieß es zuerst außerhalb Deutschlands "Deutschland ist Schuld!" bzw. in Deutschland "Es war Notwehr" - da war Politik mit drinnen. Nach dem 2. Weltkrieg sah man dass das Bild viel komplexer war und es hieß "Alle sind reingeschlittert ohne den Krieg zu wollen" - damals ging es auch um die Aussöhnung in Europa. Heutzutage, nach über 100 Jahren tendiert man eher dazu Deutschland wieder als Hauptkriegstreiber zu sehen, wenn auch aus anderen Gründen (alle Seiten hielten einen Krieg langfristig für unvermeidlich, aber das Gewicht verschob sich langsam zuungunsten der Mittelmächte also herrschte dort eine "besser Krieg jetzt als später"-Stimmung). Man kann hier also feststellen das die ursprünglich politisch motivierte Schuldzuweisung an Deutschland zutreffender war als die eigentlich mehr um Objektivität bemühte Sicht z.b. in den 60ern.

Bei Hiroshima haben alle Seiten (USA, Japan und Russland) ein solides Eigeninteresse an einer bestimmten Version:
USA: Atombombenabwurf beendete den Krieg
Russland: Russisches Eingreifen beendete den Krieg, Atombombenabwurf war ein unnötiges Verbrechen.
Japan: Atombombenabwurf war unnötig, wir sind arme Opfer.

Trotzdem wird irgendeine Version wohl wahr sein.

Und was die Sprachbarriere Japan-USA angeht: Ha! Glaubst du das wirklich so, wie du es schreibst? Was meinst du, wie viele Dukaten für die Übersetzung und US-Veröffentlichung geflossen wären, wenn der genannte Band ins amerikanische Narrativ gepaßt hätte? Den Herausgeber hätten sie dazu mit einer Stanford-Professur gekrönt. (Spekulation, ich habe das jetzt nicht recherchiert.)

Gleiches sehen wir doch heute bei den westlichen Russland-"Experten". Miese Beratung unserer "Führer" gebiert miese Politik!

Es gibt Übersetzungen von drei der Bände: die niederländische Corts-Foundation übersetzte zwei Bände (und arbeitet an einem dritten) bezüglich der Eroberung der Niederländischen Kolonien. Und das Australian War Memorial hat einen Teil bezüglich der Kämpfe in der Nähe Australiens übersetzt. Das scheint mir wenig mit Differenzen im Narrativ zu tun zu haben.

Das ist ja auch das faszinierende an Midway: der Sieger USA steht in der korrigierten Version nicht schlechter da als in der Legende - es war halt weniger Glück nötig sondern einfach solides Können. Der Unterschied besteht auf japanischer Seite, wo eben nicht ein oder zwei Fehlentscheidungen des kommandieren Admirals und eine Menge Pech die Schlacht entschieden sondern der Schlachtplan von Anfang an unglaublich dilettantisch war.

Es heißt die Geschichte wird von Siegern geschrieben - Midway ist ein faszinierendes Beispiel wie es dem Verlierer gelang die Geschichte umzuschreiben um sich ein besseres Licht zu rücken. Sie zeigt auch warum man dem Sieger mehr glaubt als dem Verlierer: Sieger prahlen gerne mit ihren Erfolgen, die Verlierer schweigen und reden gerne über was anderes (menschliche Natur). Wenn ein Verlierer redet dann oft um zu Erzählen das jemand anders Schuld an der Niederlage trägt - manchmal ist die Schuldzuweisung dann sogar richtig aber oft genug wird die Schuld einfach auf jemand bequemen abgeladen (Beispiel deutsche WW2-Memoiren: Hitler war an allem Schuld, hätte er die Generäle machen lassen wäre der Krieg gewonnen worden - kompletter Stuss).

Ich neige dazu, dir in den meisten Punkten zuzustimmen.

Vor allem viele deiner Aspekte zur Midway-Geschichte sind mir neu. Letztlich denke ich bei der Sache vor allem aber an eins: Inwieweit ändert dieses japanisch-sachte "Weißwaschen" der eigenen Seite etwas am geopolitischen status quo? Wahrscheinlich ziemlich wenig, da Japan auch in 10 Jahren noch in fester US-Einflußsphäre weilen wird.

Sehr lange habe ich geglaubt, die Geschichtswissenschaft sei gut und unpolitisch, insofern daß die völlig unvoreingenommene und ergebnisoffene Suche nach historischen Fakten im Vordergrund steht. Ich unterstelle den allermeisten Historikern auch keine böse Absichten.

Aber. Wir erleben gerade (zumindest subjektiv) eine nie dagewesene Korruption im Westen. Vielleicht macht der noch weitgehende offene und Echtzeit-Informationsfluß im Internet vieles offensichtlich und zugänglich, was im Kern "schon immer" so war.

Wer eine Stiftung gründet, um politische Bildung oder wissenschaftliche Arbeit zu betreiben oder zu unterstützen, tut dies meist nicht aus purem Altruismus. Im Artikel geht es ganz konkret um die KAS und ein Paradebeispiel, wie man sich willige 'Wissenschaftler' aneignet, die wiederum zitierfähige Arbeiten leisten.

Unter Schröders <Edit>Noch unter Kohls!</Edit> Kanzlerschaft wurde mal eine deutsch-russische Historikerkommission ins Leben gerufen, um beide teils stark divergierenden Sichtweisen anzunähern. Real und auf dem Papier leistet die noch immer arbeitende Kommission sicherlich sehr gute Arbeit — aber die Öffentlichkeit kriegt nichts davon mit.

https://www.deutsch-russische-geschichtskommission.de/

Gar nichts kriegen wir als Normalbürger davon mit.

Stattdessen Kellerhoffsche Neuinterpretationen über die Kriegsschuld (bei völliger Ignoranz oder vorsätzlicher Abneigung gegen frisch geöffnete Archivstücke in Moskau) und Stürmers alte Platte auf welt.de, Russland lebe über seine Verhältnisse — bei einem tatsächlichen BIP-Schulden-Quotient, von dem Deutschland inzwischen nur noch träumen kann, geschweige denn die USA.

Sollen wir damit auf was vorbereitet werden, was nicht gut enden wird? Ist das die Vorstufe zur Wiederbelebung von STÜRMER-Karikaturen?

TL;DR: Wenn mit Geschichte (dazu noch grottenschlechte) Politik gemacht wird, wird mir schlecht.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (21.06.2021 14:12).

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