auf_der_hut schrieb am 14.07.2024 12:55:
Es geht nicht ums Leugnen, sondern darum, dass niemand weiß was richtig ist, da zu viele Wahrheiten gleichzeitig verbreitet werden.
Die offensichtlichen und unstrittigen Fakten reichen für die vernünftige Beurteilung der Lage eigentlich aus, wenn man sich davon nicht durch diverse Nebelkerzen ablenken lässt.
Von den von Russland genannten Kriegsgründen ist völkerrechtlich nur einer theoretisch relevant. Das ist die Behauptung, die Ukraine verübe einen "Genozid" an der russischen Bevölkerung in der Ukraine. Das würde im Rahmen der "Responsibility to Protect" (R2P) einen Militäreinsatz zum Schutz dieser Minderheit rechtfertigen. Allerdings sicherlich nicht in Art, Umfang und Zielsetzung der russischen "Spezialoperation". Selbst dann nicht, wenn man großzügig über die Tatsache hinwegsieht, dass Russland jeglichen Beweis für diese Behauptung schuldig geblieben ist und ihm seinerseits schwere Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten vorgeworfen werden.
Dass Russland durch den Wechsel der Ukraine ins westliche Lager seine Interessen gefährdet sieht und dass die USA prowestlichen Kräfte in der Ukraine unterstützt haben ist hingegen ein ganz normaler Streitfall zwischen zwei Großmächten um ihre Interessensphären, der auf keinen Fall den Einsatz von Gewalt rechtfertigt.
Genauso irrelevant ist es, ob sich die USA in der Vergangenheit immer völkerrechtskonform verhalten haben, was man sicherlich getrost bezweifeln kann. Aber warum sollte die Ukraine eine russische Besetzung hinnehmen müssen, weil die USA z.B. bei der Begründung des Irakkrieges gelogen haben? Man kann sich zur Rechtfertigung des eigenen Handelns nur auf das Recht, nicht aber auf das Unrecht berufen.
Noch ein Wort zu dem Istanbul-Johnson Narrativ: welche Mittel hätte der Westen denn, die Ukraine zur Fortsetzung eines Krieges zu zwingen, den sie nicht mehr führen will? Wenn die Ukraine sich, trotz aller westlichen Unterstützung, zurückzieht und den Kampf einstellt, dann ist der Krieg beendet. Ohne ukrainische Streitkräfte gibt es keinen Ukrainekrieg. Falls Selenski eines Tages zu dem Schluss kommt, dass der Kampf sinnlos geworden ist, dann kann Johnson (oder wer auch immer) nackt auf dem Tisch tanzen, dann ist der Krieg trotzdem vorbei.
Völlig richtig ist m.E. Schulenburgs Gedanke, dass kommenden Verhandlungen wieder die Einhaltung des Völkerrechts in den Mittelpunkt stellen müssen. Das bedeutet konkret, dass nicht russische Gebietsansprüche und "Sicherheitsinteressen" im Vordergrund stehen, sondern Russlands humanitären Pflichten als Besatzungsmacht. Es bedeutet auch das Aus für alle Konzepte, die auf einen "Land-für-Frieden"-Deal hinauslaufen. Denn das würden nur gehen, wenn Russland großzügige Ausnahmen vom Völkerrecht zugestanden werden. Eine Anerkennung gewaltsamer Gebietsgewinne ist völkerrechtlich ausgeschlossen.
Zunächst: ich stimme in weiten Teilen mit Ihren Positionen überein.
Bei Ihren Ausführungen zum "Istanbul-Johnson Narrativ" (wie Sie es nennen) ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen des Friedensvertrages (vor allem westliche) Garantiestaaten vorgesehen waren. Und wenn die sagen: 'machen wir nicht - entweder ihr kämpft weiter oder ihr steht allein da!', dann könnte die Ukraine zwar mit Russland Frieden schliessen, stünde in der Folge Russland dann aber gänzlich schutzlos gegenüber. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Regierung Selenskyj eindeutig westlich ausgerichtet ist - und das sicher auch bleiben will - wäre das schwerlich hinnehmbar.
Zudem darf man sicher auch davon ausgehen, dass es gegenüber dem Westen bereits erhebliche wirtschaftliche Abhängigkeiten gibt. Joe Bidens feixend vorgetragene Anekdote, wie er mit wirtschaftlichem Druck die Ablösung eines missliebigen ukrainischen (!!!) General-Staatsanwaltes erzwungen hat ist einigen hier sicher noch gut in Erinnerung...
Insgesamt hat(te) "der Westen" also durchaus sehr effektive Möglichkeiten die Entscheidung(en) der Ukraine in seinem Sinne zu lenken.