Meiner Ansicht nach würden solche Analysen an Schärfe gewinnen, wenn man zwischen den USA als Nation und dem US-Imperium unterscheiden könnte. Selbstverständlich überschneiden sich die beiden – aber eine Nation hat Grenzen, eine Bevölkerung und Gesetze, die die Regierung meist ziemlich explizit zum Schutz dieser verpflichten.
Ein Imperium gleicht eher untereinander vernetzten Netzwerken, mit dem gemeinsamen Ziel der Zentralisierung von Macht und Reichtum. Die Form des Imperiums entwickelt sich dabei gemeinsam mit der Definition von Werten: Je nach Ära ging es um die Verfügungsgewalt über Territorium, Rohstoffe oder Arbeitskräfte.
In den letzten Jahrzehnten ging es vor allem um finanzielle Dominanz – der Aufstieg von Blackrock und Vanguard ist ein gutes Beispiel – aber aktuell liegt der Fokus auf tatsächlichen Produktionskapazitäten. Wichtig scheint mir auch, dass das Imperium nach dem Pyramiden-System funktioniert: Profit für alle Teilnehmer gibt es nur solange, wie das System expandieren kann – danach profitiert das Zentrum auf Kosten der Peripherie.
Wenn man die USA als Nation betrachtet, ist die Frage, wieso US-Truppen in Syrien oder Taiwan stationiert sind, berechtigt und rational, die Antwort darauf meist ziemlich unsinnig. Wenn man die USA aber als Imperium betrachtet, ist die Frage unsinnig und die Antwort ergibt sich von selbst.
Vor diesem Hintergrund klären sich auch die scheinbaren Widersprüche in Bezug auf Europa: Russland und China sind keine Gefahr für die Nationen – weder die USA noch in Europa – aber sie behindern das US-Imperium. Erstens beugen sie sich nicht dem globalen Machtanspruch (die "regelbasierte Ordnung") und zweitens behindern sie die Expansion, was den Transfer von aktuellen Werten von der Peripherie ins Zentrum nötig macht. Diese Perspektive erklärt auch, wieso europäischen Politiker – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, die Forderungen des US-Imperiums wichtiger sind als Grenzen und Bevölkerung ihrer Länder.
Die tatsächlichen Widersprüche hingegen werden verschleiert: Dass Europa Russland in Schach halten soll, während sich die USA um China kümmern, steht im Widerspruch zur Abwanderung der Industrie. Der Machtanspruch des Imperiums steht im Widerspruch zu internationalem Recht, wie der UN-Charta. Und die Notwendigkeit, jeden Konflikt als Sieger zu beenden, steht im Widerspruch zu den tatsächlichen Möglichkeiten.
gruss. luky