Die personalisierte Kommunikation wirkt idealerweise, d.h. wenn sich alle an die gleichen Regeln halten müssen, in beide Richtungen. Der Cancelnde kann jederzeit zum gecancelten werden. Das reicht, um bei den meisten sich selbst bewussten Menschen automatisch das Gemüt zu zügeln. Manche würden sagen: hart aber fair.
Die ständige Invokation der Moral torpediert das. Dann werden langfristig alle Standpunkte atomisiert und man steht relativ alleine da, mit einer eigenen, selbstverständlich komplett freien und individuellen Meinung die nur rein zufällig von der jeweiligen peer group geteilt wird, und die sich leider aus moralischen Gründen mit keiner anderen vereinbaren lässt ohne hinterher mit einem schlechten Gewissen dazustehen. Dann findet man sich in einer Welt wieder, in der alles perfekt sein könnte, wenn sie nicht so imperfekt wäre. "Die anderen sind Schuld, und man kann leider nix machen." Und man möchte doch unbedingt Gut sein...
Auf diese Art des Diskurses muss man sich aktiv einlassen. Man kann es aber auch lassen. Dann wirkt der Zauber nicht mehr und man läuft auch nicht mehr Gefahr, sich moralisch korrumpieren zu lassen. Das muss aber nicht immer die rationalere Entscheidung sein.
Das ist kein spezifisches Merkmal der digitalen Kommunikation. Geschichtsbücher sind voll von Beispielen. Wo ist der Drittes-Reich-Und-Zweiter-Weltkrieg-Vergleich, wenn man ihn mal braucht?
---
Wofür also ist die gesellschaftlich feststellbare Tendenz, dass Positionen zunehmend rigide werden, Kontextualisierungen und Relativierungen – ein "Aber" – im Sinne einer "Cancel Culture" abgelehnt werden, eine "Lösung"?
Meine Vermutung: Die selbst vorgesetzten Versprechen lassen sich (immer offensichtlicher werdend) nicht mehr einlösen, aber man ist ja Gut und wollte schon immer auf der moralisch "richtigen" Seite stehen und möchte auch weiterhin da stehen bleiben. Sachlichkeit kommt da nur in den Weg.