Pnyx (1) schrieb am 06.11.2023 16:06:
Im heute vorherrschenden Diskursparadigma fungiert Moral als einziges Kriterium. Dies führt zu regelrecht totalitären Aussagen, die keinen Widerspruch dulden. Was vor Jahren noch auf die Anhänger der Buchstabensuppe beschränkt war - etwa, Frauen muss man immer glauben, wenn sie einen Mann des Missbrauchs beschuldigen -, hat sich inzwischen auf den medialen Mainstream ausgeweitet - die an sich gemässigte Forderung nach einer Feuerpause in Gaza wird etwa von NZZ-Guyer apodiktisch als Verweigerung des israelischen Verteidigungsrechts gedeutet, mithin als Ausdruck von 'Israel-bezogenem Antisemitismus'.
Dekontextualisierung ist in absoluten moralischen Wertungen immer schon impliziert. Ich nenne das Hypermoralismus. Und ein solcher zerstört Gesellschaften, indem er jeder Diskussion die Grundlage entzieht, die Möglichkeit einer inhaltlichen Bewegung und damit Annäherung. Die Positionen sind in Stein gemeisselt, unverrückbar, essentialistisch.
Leider gibt es den Habermas'schen 'herrschaftsfreien Diskurs' in der Realität kaum. Herrschafts- bzw. Machtpartikel stecken überall. Es gibt Menschen, die ihre Ansicht frei nicht nur äussern, sondern an prominenter, sprich weithin beachteter Stelle auch weit verbreiten können, und andere. Kombiniert mit Hypermoralismus führt das zum Vorschein einer kommenden Diktatur, die dann auch ganz gewiss nicht im Sinn der die Wokeness Verteidigenden sein wird.
Wenn's denn wenigstens Moral und nicht nur Doppelmoral wäre...