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  • moggi torrez

mehr als 1000 Beiträge seit 24.11.2001

Gewisser Überdruß

Dieses Gedicht von Pablo Neruda kommt mir immer wieder in den Sinn:
"Cierto Cansancio" aus dem Buch "Estravagario" ("Extratouren" auf Deutsch im Verlag, ich würde es aber als "Handbuch der Abweichungen" übersetzen).

Vor allem die letzten Zeilen des Gedichts:

Quiero que el hombre cuando nazca
respire las flores desnudas,
la tierra fresca, el fuego puro,
no lo que todos respiraron.

Dejen tranquilos a los que nacen!
Dejen sitio para que vivan!
No les tengan todo pensado,
no les lean el mismo libro,
déjenlos descubrir la aurora
y ponerle nombre a sus besos.

Quiero que te canses conmigo
de todo lo que está bien hecho.
De todo lo que nos envejece.
De lo que tienen preparado
para fatigar a los otros.

Cansémonos de lo que mata
y de lo que no quiere morir.

Ja genau:

Cansémonos de lo que mata
y de lo que no quiere morir.

Laßt uns dessen überdrüssig werden das tötet
und dessen was nicht sterben will.

Christian Morgenstern hat das auch schon gut auf den Punkt gebracht:

Ich weiß, warum ich mich verbeiße
ins bunte Schürzentuch der Welt,
daß du mich wirbeln kannst im Kreise
und doch mein Zahn den Fetzen hält.

Ich würde sonst verloren fallen
im leeren Raum, ein irr Gespenst,
denn sieh: ich glaube nichts von allen
den Geisterwelten, die du nennst.

Wer gibt dir Macht, davon zu sprechen ?
Ich lasse nicht vom Jetzt und Hier.
Du mußt mir das Gebiß aufbrechen.
Ich bin um diesen Preis ein Tier.

Eine noch ältere Quelle aus dem Goldenen Zeitalter in Spanien (der Zeit vor den katholischen Königen und vor der Reconquista, als Christen, Juden und Moslems mehr oder weniger friedlich dort zusammenlebten), ein Rabbi dessen Namen ich nicht mehr weiß:

Das Neugeborene hat die Hände zur Faust geballt
denn es will in dieser Welt viel greifen.

Der Sterbende hat die Hände offen
denn er kann aus dieser Welt nichts mitnehmen.

Es geht nicht daum wie lange man lebt oder wie früh oder wann man stirbt. Es geht um ein erfülltes Leben, ob man nun viel greift oder sich Gedanken darüber macht, was man mitnehmen kann. Das Virus ist da unser kleinstes Problem.

Bei den allermeisten Debatten um das Virus geht es um das "viel greifen".
Und man nimmt kaum etwas mit dabei.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (25.06.2020 02:13).

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