deedl schrieb am 28.12.2020 08:47:
Ich gebe dir durchaus Recht, jede kleinere Grupenzugehörigkeit schaffte eine insgesamt größere Grenzreibungsfläche zwischen den sozialen Einheiten und all diese Grenzflächen sind Konfliktpotentiale.
Daraus würde dann aber doch wohl folgen, dass bei einer Gesamtweltstaatlichkeit diese Grenzflächen wegfallen würden.Im Gegenteil. Gesamtstaatlichkeit bedeutet, mehr Interaktion, mehr gemeinsame Entscheidungsfindung und mehr zu lösende Konflikte. Schon in der EU ist zu erkennen, dass EU-weite Lösungsänsätze oft an den verschiedenen Bedürfnissen der Einzelstaaten vorbeigehen. Wie soll das erst auf Weltebene funktionieren?
Die EU besteht aus Staaten mit vor allem eigenen nationalen Interessen. Da ist es also kein Wunder dass das wie eine weitere Ebene von Reibungsgrenzen wirkt.
Es ist nicht zu erkennen, dass dann viele Synergieeffekte dabei zum Tragen kommen.
Aber wo ich Synergieeffekte schreibe …
Was veranlasst die Konzerne zu fusionieren, wenn nicht, dass es einen Effizienzgewinn dabei gibt.
Ok, Konzerne sind alles andere als Demokratien und bei ihrer Fusion werfen sie dann auch Personal über Bord.
Nee ist dann wohl kein so schönes Beispiel.
Wenn das aber nicht der Fall ist, stellt sich die Frage, was die realen oder natürlichen Grenzen zwischen den unvereinbaren Teilgruppen sind. Die Grenzziehung einfach aufgrund von historischen Machtverhältnissen scheint mir da erst einmal kein so ganz einsichtiges Konzept zu sein.
Dafür gibt es ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, die darüber abstimmen können, ob sie unabhängig sein wollen oder nicht.
Echt jetzt? Was ich bisher mitbekommen habe scheitert das mit der Völkerselbstbestimmung immer daran, dass der übergeordnete Staat dem Anspruch der Menschen in einer Region ein eigenes Volk zu sein, einfach widerspricht und dann geht die Abspaltung nicht unter der Eskalationsschwelle eines Bürgerkriegs über die Bühne.
Übrigens ist eines der Hauptprobleme der Migrationsdebatte, dass es nie eine demokratische Abstimmung darüber gab, ob Deutschland zu einem Einwanderungsland werden soll.
Ja das ist wohl wahr. Und auch wo die zugewanderten Menschen dann erst mal wohnen sollen war auch weniger das Thema.
Aber das mit der Wanderung ist mit nationalen Strukturen leider nicht in den Griff zu bekommen.
Ok, damals bei den Einwanderungswellen nach Nord Amerika konnte man die mit Schiffen Ankommenden ganz gut kontrollieren und das Land war überdies weitgehend leer. Also ganz andere Verhältnisse. Bis auf die Schlepperdienste, die es damals auch schon gegeben hat.
Allerdings nützt es auch nichts darüber zu lamentieren. Große Wanderbewegungen von Menschen sind wenn sie einmal in Gang gekommen sind und weitgehend über Land gehen, wohl nur mit Gewalt zu stoppen.
Und da ist es dann eben auch eine Frage wie die Abstimmung darüber ausfällt.
Unüberwindbare ethnische und kulturelle Grenzen, darüber lasse ich gerne mit mir reden, aber was haben diese nun denn mit den vor allem erst im 19ten Jahrhundert festgezurrten Nationalstaaten zu tun?
Dass die Nationalstaaten entlang dieser kulturellen Grenzen entstanden sind.
Ist das denn nun wirklich so?
Und wie kann man einer kulturellen Unterschiedlichkeit einen objektiven Messwert zuordnen?
Ansonsten läuft es doch nur darauf hinaus: „kommen mir irgendwie fremd vor.“ und das trifft ja oft schon für die Leute aus dem Nachbardorf zu.
In der vorangegangenen feudalen Ordnung waren Staaten als Herrschaftsgebiete eines feudalen Herrschers bloße Ansammlungen von Völkern und Menschen. Im Zuge der Nationalisierung haben kulturell eng verwandte Volksgruppen fusioniert (Deutschland, Italien)
Frankreich nicht zu vergessen. Aber die mussten sich auch nicht groß vereinen.
wären durch bloße Macht zusammengehaltene Vielvölkergebilde zerfallen sind (Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich).
Sind die aufgrund der inneren Spannungen zerfallen oder aufgrund von massiven Einwirkungen von Außen?
Ich denke das ist gar nicht so klar auseinander zu halten.
Wenn man nun etwas zynisch drauf ist könnte man ja auch sagen das Deutschland sich wieder gespalten hat, die Ostländer wollten lieber ein kommunistisches System und die Westländer halt was mit mehr Kapitalismus.
Und dazwischen eine mit Mienen und Stacheldraht bewehrte Kulturgrenze.
Kommt einem dann aber nicht so als natürliche Grenze in den Sinn.
Also noch mal, was sind objektive Kriterien für Kulturgrenzen.
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Nationalstaat elementar für die Demokratisierung des Abendlandes war, denn ethnische Homogenität bedeutet, dass es erstens eine gemeinsame Sprache und Öffentlichkeit gibt, um öffentliche Debatten zu führen, und zweitens dass Wahlentscheideungen anhand inhalticher Kriterien und nicht nach ethnischer Zugehörigkeit getroffen werden.
Dem würde ich gerne zustimmen können, wenn ich etwas mehr des Erlebnisses hätte, dass mittels der gemeinsamen Sprache tatsächlich offene öffentliche Debatten geführt würden.
Zugegeben es gäbe die Möglichkeit, aber die meisten Debatten erschöpfen sich nun doch darin sich gegeneinander abzugrenzen und die Mauern an den Rändern der Meinungsblase zu verstärken.
Gleiches gilt auch für die Aussage das Wahlentscheidungen aufgrund von Aussageinhalten getroffen würden.
Ich erkenne das irgendwie nicht.
Und die Parolen auf den Wahlplakaten sind dann so absolut inhaltsleer, das ich mich bei jedem von ihnen in dem Punkt bestätigt sehen, dass Wahlen nicht auf der Ebene der Inhalte ausgefochten werden.
Also wir sprechen zwar alle hier ein und die selbe Sprache, aber wir verstehen uns dennoch ebenso schlecht wie die Bauarbeiter damals in Babylon.
Und ok, aber dass ist dann mein persönliches Problem, das ist dann halt nicht so ganz für meine Kultur.
Außer in dem Fall, dass es ethnische Unverträglichkeiten gäbe, wäre die Überwindung der Nationalstaatlichkeit mein bevorzugtes Weltzukunftsmodell.
Was soll das bringen?
Lösungsmöglichkeiten für die aktuellen Menschheitsprobleme.
Noch mehr imperiale Machtkonzentration, noch weniger Einflussnahme lokaler Gruppen auf ihre Geschicke, noch mehr Bürokratie, noch mehr Machtmissbrauch, noch mehr dysfunktionale Kompromisse.
Du hast ja Recht das sind alles üble Nebenwirkungen in den Organisationsstrukturen.
Aber ich beurteile eine Medizin nicht primär nach ihren Nebenwirkungen, sondern erst mal schaue ich ob sie Wirkungen hat, die in der Lage sind den Zustand eines Kranken zu verbessern.
Und es ist doch auch gerade ganz groß in Mode einen ganzheitlichen Ansatz zu versuchen und nicht nur an den Symptomen herum zu doktern.
Die Patientin Erde ist halt schon etwas krank wie es aussieht.
Wenn dann zum Beispiel die Leber sagt: „Nee wenn ich mich nur gut genug von den Giftstoffen abschirme, die da draußen durch den Körper fließen, dann geht es mir gleich viel besser.“ geht es halt ratz fatz auf die Intensivstation.
Ich sehe die Lösung eher in einer Stärkung der unteren Ebenen. Entscheidungen sollten dezentral und demokratisch getroffen werden.
Da wäre ich voll und ganz bei dir wenn ich einen solchen Willen zur politischen Verantwortung beobachten würde.
Das erstes Gebot dabei ist wohl: „Spreche vernünftig und mit einem konstruktiven Ansatz mit denen, die deine Ansicht (die ja meist auf Interessen basiert) nicht teilen.“
Schon die EU zeigt, dass ohne gemeinsamen Sprachraum und damit ohne gemeinsame Öffentlichekit der Raum fehlt, in welchem zu politischen Themen eine öffentliche Debatte stattfinden kann.
Ja klar die EU ist zugegeben ein verdammt schlechtes Beispiel für ein funktionierendes System.
Die Ausführungen darüber ufern ins Unendliche aus, aber ich denke nicht, dass es dabei um ein Sprach- oder Kulturproblem geht sondern um Interessen.
Aber was sind eigentlich die Interessen der Menschen?
Und dienen die nationalstaatlichen Ordnungen denn primär den Interessen der Menschen?
Ich vermute das die Interessen der Menschen in den anderen europäischen Ländern sich weit mehr mit den Interessen der Menschen in Deutschland decken, als die Interessen von einigen Menschen mit den Interessen der meisten Menschen übereinstimmen.
Es gibt keine EU-weite Öffentlichkeit, und so gibt es keine EU-weiten Debatten.
Sowas könnte man aber doch mit den modernen Kommunikationsmitteln jederzeit einrichten.
Ich kann mich aufgrund der Sprachbarriere nicht mit einem beliebigen EU-Bürger über unser Zusammenleben austauschen. Die ginge zwar auf Englisch, aber die Notwendigkeit, auf eine Drittsprache auszuweichen, würde mit dem Preis des Verlustes seiner und meiner kulturellen Identität einhergehen.
Nun ich akzeptiere, dass du eine an deine Sprache gebundene kulturelle Identität nicht verlieren möchtest, aber gibt es nicht hinter der speziellen Sprachcodierung auch eine inhaltliche Ebene der kulturellen Identität die du beim Gebrauch einer anderen Sprache gar nicht aufgeben musst?
Meiner Beobachtung nach steht das Konzept der nationalen Identitäten und damit eben auch nationaler Interessen der Lösung globaler Probleme massiv im Weg.
Eine globale Lösung für irgendwas ohne Berücksichtigung nationaler Interessen kann es nicht geben, genausowenig wie es eine globale Lösung ohne Berücksichtigung individueller Interessen geben kann.
Was ist das elementarste individuelle Interesse?
Lebendigsein und das möglichst leidfrei, würde ich erst mal sagen.
Aufgrund der globalem Herausforderungen ist das aber gefährdet.
Ich würde es also als erste Priorität berücksichtigt wissen wollen.
Wenn du hier die Vereinigten Staaten von Amerika als ein Beispiel nennst, warum dann nicht als das so schnell wie möglich anzustrebende Ziel, die Vereinigten Staaten der Erde?
Jede zusätzliche staatiche Ebene verringert den Einfluss des Individuums auf sein Gemeinswesen.
Das ist zweifelsfrei zutreffend.
Im alten China hieß es deswegen.
„Es herrscht Friede im Reich, wenn die Bewohner eines Dorfes von ihren Nachbardörfern nur durch das Krähen der Hähne wissen.“
Auf der untersten Ebene sind die Menschen also in der lokalen Struktur eingebunden.
Aber das mit den Krähen der Hähne bedeutet dann, dass sie ihr Dorf auch nicht verlassen.
In einem solchen Zustand tangieren die Belange des einen Dorfes keinen der Belange der Nachbardörfer.
Sobald es jedoch eine Berührungsstelle zwischen den Dörfern gibt, bedarf es einer darüber liegenden Schicht der Regulation. Und immer so weiter nach oben, bis es schließlich um die Angelegenheiten des Reichs geht.
In unserer modernen Gesellschaft tangiert allerdings das Verhalten fast jedes Individuums die belange von Individuen überall auf diesem Planeten. Das Dorf ist global.
Ich sehe die Lösung eher in einer Dezentraliserung
Dann muss als Konsequenz die Mobilität extrem reduziert werden.
mit weniger Gängelung durch korrumpierte politische Betriebe und gesichtslose Bürokraten. Die EU ist ein undemokratischer Scherbenhaufen. Ich würde die EU auf ein Abkommen zum freien Personen- und Güterverkehr ersetzen und selbst auf Bundesebene einige sinnlose Ministerien streichen. Wir benötigen nicht noch mehr staatlich Bürokratie, sondern mehr individuelle Freiheiten und mehr Spielraum für lokale demokratische Gestaltung.
Wie gesagt, wenn die Autonomie der lokalen Strukturen gestärkt werden soll, geht das wohl nur auf Kosten der überlokalen Interaktionen.
Und in diese Richtung erkenne ich keinen gangbaren Weg. Und auch wenig an Willen dazu bei den Menschen.
Du sagtest selbst, dass der Mensch ein Rudel- und kein Herdentier sei. Was soll es da bringen, alle Menschen der Welt in einer gigantischen Super-Herde zusammenzupferchen.
Ja das ist ein Widerspruch.
Wir sind nicht für das gemacht, was wir als zivilisatorische Kollektiv für und mit uns gemacht haben.
Aber das was wir gemacht haben ist nun Bestandteil unserer Realität geworden.
Es hat sogar eine so große Macht über uns, dass es bis tief hinein in unser Psyche wirkt und uns fast schon wie so was wie Zellen in einem großen Organismus zusammen zwängt.
Widerstand dagegen ist auf jeden Fall sehr schwierig, wenn nicht sogar zwecklos.