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  • Comran

mehr als 1000 Beiträge seit 26.04.2002

Ein weiterer Schritt zum duchkalkulierten Leben der Massen

Wenn sich das jemand durchliest, dürfte wohl jeder damit
übereinstimmen, dass diese Entwicklung ein Angriff auf Kultur,
Vielfältigkeit und Kunst ist. Wahrscheinlich wird jeder den Empörten
spielen und sich darüber echauffieren, warum man erfolgreiche Musik
in Formeln pressen möchte.

Dabei sollten sich 80% der Menschen mal an die eigene Nase packen,
denn sie sind schon seit Jahren ein Opfer genau dieser Taktik. Nur
mit dem Unterschied, dass diese nun nicht mehr hinter vorgehaltener
Hand praktiziert und untersucht wird, sondern nun unverhohlen. Warum
auch nicht? Das Mainstream-Volk hat sich ja längst an offenkundige
Manipulation und Fakes im Stil von Big Brother und Casting-Shows
gewöhnt. Die Jahre davor wurden halt Rotationen auf MTVIVA
eingekauft. Spiel den Kids einen Song einfach nur lang genug vor,
dann wird er Erfolg haben. Ich selbst kenne Kollegen im eigentlich
"erwachsenen" Alter, die unverblümt zugeben, an Musik "das zu hören,
was gerade aktuell ist". Auf gut Deutsch heißt das: "Ich habe
eigentlich gar keinen Musikgeschmack, aber mir ist es wichtig, mit
dem Trend zu gehen.".

Die Anzahl der manipulierbaren Musikhörer ist enorm groß. Es
verwundert ja nicht weiter, denn es ist ja gerade eine Minderheit in
der Bevölkerung, der wirklich ein musikalisches Verständnis in die
Wiege gelegt, oder dem gar eine musikalische Bildung zuteil wurde.
Wer hat schon das feine Gespür für tiefgründigere Komposition, in
welcher auch leise Töne essentiell sind? Wer kann überhaupt
feststellen, ob ein schiefer Ton nun höher oder tiefer verschoben
werden müsste, damit er passt? Wer fühlt die Tendenz einer begonnenen
Arpeggio-Harmonie und kann sie im Geiste schon fühlen, bevor sie
zuende gespielt wurde?

Damit meine ich nicht, dass wir alle ausgefuchste Musiktheoretiker
sein müssten, um die künstlerische Qualität von Musik zu beurteilen.
Das ist keine Frage von Bildung, sondern von reiner Sensibilität. Es
gibt hervorragende musikalische Talente, die nicht einmal Noten lesen
oder irgendeinen Fachbegriff nennen können. Leider wird manchen von
ihnen ein Leben lang durch andere Umstände die darauf mögliche
Ausbildung verbaut, und es muss ja nicht jeder Talentierte auch
selber Musik praktizieren. Aber er wird immer spüren, dass "da was
ist" und echte Musik wird - wenn auch nur passiv - ein wertvoller
Teil seines Lebens.

Aber was ist mit der Masse? Nur von der kann man als kommerzieller
Musikschaffender leben. Man bombardiert sie mit komprimierter
Radio-Musik ohne Leben und Dynamik. Man sendet blitzende und
funkelnde Videoclips, die meist mehr durch schreiende Optik
Aufmerksamkeit erregen, als durch den tonalen Einheitsbrei. Der
Schlager für die weinselig lächelnde Endvierziger-Generation, die
sich mit Bügelfaltenhose in der Kneipe auf 2 Promille schießt und
hirnlose Texte glücklich mitsingt (glücklich, weil man noch in der
Lage ist, dem simplen Stoff zu folgen - und das eint unglaublich) hat
schon seit 2 Jahrzehnten den Weg in die Taschengeld-Generation
gefunden. Simpler Pop, Anfang der 80er auf nichtssagenden
Synthie-Tönen aufbauend, später hochglanzproduziert, so dass selbst
die letzte Dudel-Schnepfe noch fast nach einer echten Sängerin
klingt, bohrt sich in die Köpfe der potentiellen Käufer. Und wenn's
Stimmchen nicht reicht, pusht man halt die Möpse etwas auf und
reduziert den Textilanteil. "Sex sells" - das ist doch schon eine der
urältesten Manipulationen überhaupt. War das nicht sogar die "erste
Formel", wie sich Musik am Besten verkaufen lässt?

Die Zeiten haben sich insofern gewandelt, dass die Taktik vor der
Öffentlichkeit nicht mehr verborgen werden muss. Mehr nicht. Die
Zeiten, dass echte Künstlerpersönlichkeiten von den Labels unter
Vertrag genommen wurden, *weil* sie in der Masse erfolgreich waren,
sind schon lange vorbei. Dabei muss man aber ehrlich sagen, dass auch
in den "goldenen" 70ern das musikalische Verständnis nicht größer war
als heute. Die Masse hat nicht Floyd und Hendrix wegen visionären
Kompositionen und unnachahmlichen Improvisationstalent gehört,
sondern ebenfalls weil's "In" war. Nur halt mit dem Unterschied, dass
es oft nur ehrliche und gute Musik bis zur Massenwahrnehmung
überhaupt geschafft hat. Dafür war das Plattenregal im Laden ja auch
nur ein Fünftel von der heutigen Größe. Heute wird der finanzierte
Durchmarsch von 0 auf 100 hingelegt und gehofft, dass sich die
finanzielle Investition auszahlt.

Aber malen wir nicht alles so schwarz. Es gibt eine weitere
Konstante, nämlich, dass immer gute Musik gemacht wird. Ob sie
öffentlich wahrnehmbar ist, ist heute eher zweifelhaft, aber mit
etwas Geduld findet man immer wieder herausragende
Tonträger-Veröffentlichungen, die es wert sind, möglichst ein Leben
lang zur Sammlung zu gehören. Der frühere künstlerische Kommerz hat
seine Spaltung beinahe vollzogen: es gibt nun fast nur noch Kunst
ODER Kommerz.

Entscheiden kann sich jeder selbst, was er möchte. Solange aber der
eine oder andere Teenie oder Bumm-Bumm-Autofahrer seine Einkaufsliste
nach dem Airplay richtet, müssen wir damit leben, dass Erfolg auch
wieder durch das Airplay und sonstige manipulativen Maßnahmen
bestimmt werden kann.

Comran
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