"Zudem besteht in den beiden Kriegen die reale Gefahr einer Ausweitung und Eskalation bis hin zu einem Welt- oder Atomkrieg."
Erstens: Ein Weltkrieg muss kein Atomkrieg sein.
Zweitens: Eine Eskalation zu einem Weltkrieg ist eher unwahrscheinlich, dafür sind zu viele wichtige Staaten zu distanziert.
Das gilt für beide Konflikte.
Drittens: Eine Eskalation zu einem Atomkrieg ist fast völlig ausgeschlossen. Wäre das für Putin eine Option, hätte er das spätestens dann gemacht, als seine Armee überall geschlagen war und nicht klar war, ob die Surowikin-Linie halten würde. Das Händezittern, das man damals als Anzeichen einer Demenzkrankheit gesehen hat, war wohl nervöse Erschöpfung, und wenn er selbst dann keine Atomwaffen zündet, weiß ich echt nicht, wann er es überhaupt tut. Wahrscheinlich, wenn die Alliierten auf breiter Front nach Moskau vorrücken, aber das haben die Alliierten ja gar nicht vor, also keine Gefahr von Atomschlägen und fertig.
Das gilt nur für den Ukrainekrieg.
In Nahost ist Israel nicht an Nuklearschlägen interessiert, und auch der Iran wird sich hüten, Atomwaffen gegen Israel einzusetzen. Auch hier keine Gefahr eines Atomkriegs, man wird das konventionell ausfechten und kurz vor der endgültigen Vernichtung des Gegners haltmachen, also auch dort keine Gefahr von Atomschlägen und fertig.
"Denn tatsächlich stehen wir in beiden Kriegen auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite militärischer Eskalation ohne Endgame, die Diplomatie und Konfliktlösung verhindert."
Über den Konflikt in Israel werde ich ab hier nicht weiter schreiben.
Da hat eh keine Seite ein echtes Interesse an Aussöhnung, Frieden, oder gar an Gerechtigkeit.
Selbst machtpolitisch habe ich dazu keine Meinung. Wir haben momentan Interessen an den Ölquellen in der Nähe, aber die werden in den nächsten 20, 30 Jahren eh unwichtig werden, entweder, weil die Welt auf EE umstellt und kein Öl mehr braucht, oder weil die Welt nicht auf EE umstellt und der Wirtschaftskollaps wegen Klimaschäden die Ölnachfrage so sehr runterdreht, dass keine Sau mehr saudisches Öl braucht.
Was den Ukrainekonflikt angeht: Doch, da gibt es ein klares Endgame.
Den Krieg so lange weiterlaufen lassen, bis die russische Wirtschaft ihn nicht mehr tragen kann.
Entweder mit weiterer Eskalation, oder auf gegenwärtiger Flamme weiterköcheln lassen und den Russen nur die ernsthaften Geländegewinne verwehren, letzteres ist die billigere, aber riskantere Strategie (außerdem ist es die moralisch verwerflichere, weil dabei mehr Menschen Gesundheit und Leben verlieren, aber ich entscheide das halt nicht).
"Denn beim Ukraine-Krieg liegt die Problematik der Unterstützung nicht auf der Ebene völkerrechtlicher Legitimität, sondern auf einer realpolitischen"
Das ist richtig.
Man hat Angst vor irrationalen Reaktionen auf russischer Seite.
Womöglich die Politiker weniger als die Wähler, aber es läuft darauf hinaus, dass man extrem vorsichtig eskaliert, was moralisch und finanziell außerordentlich teuer ist.
"Die Prinzipien des internationalen Rechts, die universell gelten müssen, werden dadurch beschädigt, wenn nicht zerstört – warum sollten andere Staaten sich noch daran halten?"
Ach Herzchen, Politik ist ein schmutziges Geschäft und zweierlei Maß ist die Norm.
Und das wissen auch die anderen Staaten.
Und es geht auch nicht um Vorbildfunktion, wie dieser Satz suggeriert.
Es geht zwischen Staaten immer nur darum: Kann ICH als Staat die Aktionen von DIR anderem Staat voraussagen, je nachdem, was ICH tue?
Zweierlei Maßstab stört da niemanden außer den Rechtspositivisten, und auf die hört in der internationalen Politik einfach niemand, auch wenn sie sich noch so sehr drauf versteifen. Und die meisten Rechtspositivisten sind nur dann Rechtspositivisten, wenn es ihren eigenen Interessen dient - das gilt für die russischen wie für die westlichen wie für Autor hier, ob für einen Artikel oder im Forum, jedenfalls für die allermeisten. Also gehen Sie mir weg mit ihrem Rechtspositivismus, Herr Goeßmann, es zählen die tatsächlichen Interaktionen, und wenn Sie eine Vorbildfunktion einfordern, dann müssen sie erklären, warum das für andere Staaten so relevant ist, dass sie ihr Handeln dafür ändern - und bloßes Ansehen in der Welt reicht als Erklärung nicht aus, den meisten Staaten ist das schnurzpiepegal, die interessieren sich nur für ihr Ansehen bei anderen Staaten, und selbst das meist nur sehr begrenzt.
(Paraphrasiert) "Ist die Ukraine zu unterstützen das größere oder das kleinere Übel als sie den Russen zu überlassen?"
Na, wenn man es in dieser Schärfe formuliert, ist die Antwort klar, aber Goeßmann rührt ja in jedem Artikel die Trommel, dass man die Ukraine nicht mehr unterstützen soll, also schaun wir mal, was er diesmal schreibt.
"Bei uns sollte es um die Verantwortung westlicher Regierungen gehen, auf die wir Einfluss haben."
Hm, nein.
Er sagt richtig, dass es die Entscheidung der Ukrainer ist, ob sie kämpfen wollen, aber es ist Entscheidung der westlichen Regierungen, ob sie kämpfen können.
Unsere Entscheidungen sollten also durchaus auch darauf Rücksicht nehmen, was die Ukrainer wollen, so viel sind wir ihnen schuldig, nachdem wir ihnen versprochen haben, sie erhalten, was auch immer sie brauchen; sie haben ihren Widerstand ja überhaupt erst hochgefahren, nachdem sie diese Zusagen erhalten haben.
"Was die Waffenlieferungen angeht, scheint mir die Grenzlinie zu sein, dass die Waffen nicht zu einer Eskalation führen sollten, was das Leid für die Ukraine ausweitet und die weltweiten Risiken erhöht."
Erstmal: Ein bestimmtes Maß an Eskalation ist wünschenswert, wenn die Ukraine überleben soll, denn sonst blutet Russland sich und die Ukraine weiter aus und gewinnt man Ende womöglich doch.
Wenn Goeßmann hier also "keine Eskalation" wünscht, sagt er indirekt, dass er die Ukraine aufgeben will.
Wenn er eigentlich meint, dass man keine nukleare Eskalation will, dann sieht die Sache anders aus, denn unterhalb der nuklearen Schwelle kann Russland den Krieg durchaus verlieren, aber dann formuliert er halt leider unscharf.
Wenn er meint, eine Eskalation erhöht das Leid für die Ukraine, also da sei ein Kausalzusammenhang: Nein, das stimmt nicht.
Keine Hilfe ist für die Ukraine das maximale Leid. Dann kommt Umerziehung zu "echten Russen", ob im Gulag oder vor Ort, was mit Leid und Tod verbunden sein wird, und obendrein eine Korruptokratie wie in Russland, was eine Verbesserung der durchschnittlichen Lebensverhältnisse ausschließt. (Es ist auch erklärtermaßen gar nicht Putins Ziel. Er will "russische Größe", und die sei mit Opferbereitschaft verbunden.)
Gerade genug Hilfe für die Ukraine ist immer noch viel Leid. Jahrelange Kriegshandlungen, bis endlich die russische Wirtschaft zusammenbricht - oder die ukrainische Front, weil irgendeine Unterstützung ausgefallen ist so wie die US-Hilfe in der ersten Jahreshälfte.
Richtig viel Hilfe, aber unterhalb der nuklearen Schwelle, ist für die Ukraine optimal, dann ist der Krieg rasch vorbei und den Russen bleibt nicht viel anderes, als sich zurückzuziehen und die Wunden zu lecken. Macht man hauptsächlich deshalb nicht, weil man fürchtet, die nukleare Schwelle im Versehen zu überschreiten - und "man" sind eher die Wähler als die Regierungen.
Der ganze Satz ist also in sich recht widersprüchlich.
"Angriffe auf russischem Territorium auszuführen, wovor Moskau eindringlich warnte und es als "rote Linie" bezeichnete."
Und was passiert?
Ein einziger Testlauf einer Waffe, die noch gar nicht fertig ist und die sowieso eingesetzt würde.
Insbesondere KEINE nukleare Eskalation.
Es ist wie üblich: Die russischen Warnungen sind Theaterdonner und gehören nicht in einer Argumentationslinie, sondern höchstens als Nebengeräusch zur Kenntnis genommen.
"Nun haben wir einen blutigen Zermürbungskrieg"
Ja, aber nicht, weil die Ukrainer auf russisches Territorium gehen, wie der Artikel suggeriert.
Der blutige Zermürbungskrieg war noch vor dem Gegenangriff auf Kursk in vollem Gang.
"während Russland immer weiter aufrüstet"
Das tut der Westen auch, und die Ukraine damit ebenfalls.
Das ist also keine Aussage, aus der man groß Schlüsse ziehen sollte.
"seine vorhergesagten Vorteile auf dem Schlachtfeld ausnutzt und Fortschritte macht – was die ukrainische Position bei möglichen Verhandlungen schwächt."
Das ist regelrecht falsch.
Die Eroberungen bei Kursk verstärken die Verhandlungsposition der Ukraine ganz erheblich.
Und das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, sind die Russen bei Kursk mit der Rückeroberung nicht so recht vom Fleck gekommen, stattdessen verlieren sie dort ganz erhebliche Mengen an Menschen und Material.
(Ob diese Verluste bei Kursk oder im Donbas stattfinden, ist in der Tag egal, aber dass die Ukraine russisches Gebiet halten, eben nicht - es zwingt die Russen, die Kämpfe zu intensivieren und treibt somit die Verluste hoch, und da die Russen angreifen müssen, haben sie die höheren Verluste. Das ist der militärisch-taktische Sinn dieser Position bei Kursk.)
"Die Konsequenzen sind verheerend: Wahrscheinlich Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten sind getötet und verwundet worden"
Das sind die Konsequenzen der Eskalation, aber wie gesagt: Die Eskalation war längst da.
Kursk zwingt die Russen nur dazu, auch dort zu eskalieren, wo die Ukrainer es wollten, und das ist im Krieg immer ungünstig.
"vermutlich Zehntausende Zivilisten fielen dem Krieg bereits zum Opfer, dazu Massenflucht, Zerstörung und Vergiftung des Lands, sodass die Weltbank davon ausgeht, dass rund eine halbe Billion Dollar notwendig ist für den Wiederaufbau."
Das ist KEINE Folge der Eskalation, das war von vornherein so.
"Dazu kommen natürlich die Auswirkungen auf die weltweite Lebensmittelversorgung vor allem der Länder im Globalen Süden, die auf den Handel mit Agrarprodukten der Ukraine und Russlands angewiesen sind. Das verschärfte globale Hungerkrisen und bedrohte das Leben von Millionen von Menschen."
Auch keine Folge der Eskalation.
Im Gegenteil: Dadurch, dass die Ukraine das Schwarze Meer kontrollieren konnte, ist die russische Blockade der ukrainischen Getreideexporte aufgehoben. Hier hat Eskalation also einen positiven Effekt gehabt; säßen die Russen auf der Schlangeninsel, wäre nicht mal viel Weizenexport per Bahn möglich, weil viel Weizen in Küstennähe umgeladen werden muss.
"Russland hat zwar auf die Überschreitung der roten Linien bisher nicht entsprechend mit gefährlicher Eskalation reagiert, also z.B. Waffentransporte in Polen bombardiert, US-Militärstellungen als Vergeltung angegriffen oder gar taktische Nuklearwaffen eingesetzt."
Also waren es wohl gar keine roten Linien, oder?
"Auch könnte Moskau die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung weiter ausweiten."
Nein, kann es nicht. Russland führt seinen Krieg bereits mit dem ihm möglichen Maximum.
Neue Waffensysteme sind keine weitere Eskalation, sondern sie werden in jedem längeren Krieg immer wieder eingeführt; höchstens, dass die Langstreckenangriffe der Ukrainer die Russen bewogen haben, ihre ersten Feldtests vorzuziehen und das als "Gegenschlag" zu verbrämen.
Ich meine: Wenn ein Land einen Leitzins von 21% in Kauf nimmt, um einen Krieg führen zu können, wie realistisch ist das wohl, dass es sich beim Einsatz seiner militärischen Mittel selber beschränkt?
Auf Nuklearwaffen verzichten sie wahrscheinlich nur deshalb, weil dann der Atomwaffensperrvertrag Geschichte wäre und alle Nachbarstaaten Russlands nuklear aufrüsten würden, womit Russlands Nuklearstatus plötzlich keine Besonderheit wäre. Russland hat von der Nukleardrohung viel mehr Nutzen als von einem tatsächlichen Einsatz, sie werden also den Teufel tun und Atombomben werfen.
"Es gibt darüber hinaus kaum noch ein Argument für ein positives Szenario für die Ukraine, ein Endgame, nach dem Kiew die russische Armee vertreiben könnte"
Doch, die russische Armee kann kollabieren.
Da die Russen alles reinwerfen, was sie haben, wird man den Kollaps auch nicht daran ablesen können, dass die russischen Kriegsanstrengungen allmählich nachlassen, im Gegenteil: Sobald die russische Regierung merkt, dass es bei irgendeiner wichtigen Ressource endgültig dem Ende zugeht, wird sie nochmal das Äußerste geben, um doch noch einen Sieg herauszuholen, weil sie bei einem Weiter So ja verlieren wird.
Man kann höchstens indirekt auf einen bevorstehenden Kollaps schließen. Hohe Zinsen, überhitzte Wirtschaft, Inflation, solche Sachen halt - nur dass die einem keinen Termin geben, wann das wirklich zum Kollaps führt. Herrje, das 3. Reich hatte den Krieg wirtschaftlich in dem Moment verloren, in dem sie die Ölquellen im Kaukasus nicht erobert hat, trotzdem hat sich der Krieg noch mehrere Jahre hingezogen. Eben weil man immer wieder auch noch die allerletzten Ressourcen mobilisiert hat; die Russen werden genau das Gleiche tun.
"während Experten vielmehr die Gefahr sehen, dass die Ukraine militärisch kollabieren könnte."
Na, nicht "vielmehr". Die Gefahr ist nicht größer als bei den Russen.
Aber sie ist real, das stimmt schon.
"Das wurde auch von der ukrainischen Militärführung so gesehen. Selenskyj wechselte sie schließlich aus, siehe die Entlassung von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj."
Hm, nein. Saluschni wurde einfach zu populär.
Klar wird es auch Differenzen in Fragen der Strategie gegeben haben, aber ob das wirklich der Grund war? Das weiß schließlich auch Goeßmann nicht, er stellt hier persönliche Vermutungen als feststehende Tatsache dar, was mir wirklich nicht gefällt.
"Das alles müssen wir im Hinterkopf haben, wenn es darum geht zu beurteilen, ob das Ausmaß und die Art der Waffenlieferungen moralisch vertretbar sind. Ich glaube, dass die enorme Aufrüstung der Ukraine seit einiger Zeit schon nicht mehr gerechtfertigt werden kann."
Tja, und ich glaube, moralisch ist selbst die jetzige eher halbherzige Unterstützung gerechtfertigt.
Die erwartbaren ukrainischen Verluste an Leib und Leben bei einem Sieg der Russen sind einfach zu grässlich.
Und ich finde es befremdlich, dass die Leute, die gegen eine weitere Unterstützung der Ukraine argumentieren, diesen Aspekt immer noch ausblenden.