Ansicht umschalten
Avatar von w-j-s
  • w-j-s

mehr als 1000 Beiträge seit 24.11.2005

Die Kolonialmächte sind schuld, echt jetzt?

Das Osmanische Reich hatte um 1500 die stärkste und modernste Armee im Mittelmeerraum und Europa.

Konstantinopel, wie Istanbul unter den Osmanen weiterhin offiziell hieß, war um 1500 das, was es schon im Jahr 500 war, im Jahr 1000 und im Jahr 2000: die größte Metropole der Region Mittelmeerraum/Europa.

Die Sultane legten sich 1517 nach der Eroberung Ägyptens, damals noch immer das landwirtschaftlich ertragreichste Land am Mittelmeer, den Titel Kalif zu und beanspruchten damit die Führung der islamischen Welt.
Seit 1453 nannten sie sich auch "Römischer Kaiser" und setzten gegenüber den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches nach 1500 vertraglich durch, dass der Titel "Römischer Kaiser" nur dem Herrscher über Konstantinopel, also ihnen, im diplomatischen Verkehr zwischen Wien und Konstantinopel zustand.

Der Titel "Römischer Kaiser" war nämlich universell. Er implizierte die nominelle Oberhoheit über alle christlichen Völker.

Damit beanspruchten die osmanischen Sultane als Kalifen des Islams und Römische Kaiser schlicht die Weltherrschaft. Und anders als bei Byzanz nach 1180 war dieser Anspruch Konstantinopels ab 1453 auch wieder militärisch unterlegt.

Konstantinopel behielt daher seinen Namen gegenüber Europa, um den dortigen Mächten, allen voran Habsburg, deutlich zu machen, dass man nit dem Besitz der christlichen Hauptstadt eine führende politische und militärische Rolle in Europa und dem Mittelmeerraum zu spielen gedachte.

Und die Osmanen versuchten das auch in die Tat umzusetzen und hatten damit bis 1600 einigen Erfolg. Ungarn wurde erobert. Mit Frankreich und dem Papst verbündete sich Konstantinopel um 1540 gegen Habsburg. Eine interessante Allianz, oder?

Es lag nicht an den Westeuropäern, dass das Osmanische Reich, das bis 1830, sieht man von Marokko ab, auch den ganzen arabischen Raum beherrschte, den Anschluss an die Moderne verlor.

Es lag auch nicht an den Europäern, dass Persien seinen Status als regionale Großmacht im 17. Jahrhundert verlor.

Um 1400-1500 begann in Europa die Renaissance.

Das Osmanische Reich geruhte, bei dieser Entwicklung keine aktive Rolle zu spielen, obwohl es im Besitz all jener Regionen war, deren geistiges Erbe die Renaissance wiederaufleben ließ.

Es änderte sich in der Türkei erst sehr spät, mit den Jungtürken und später Kemal Atatürk, dass die Misere analysiert und Konsequenzen gezogen wurden.

Atatürk sah vor 100 Jahren übrigens im Islam das Problem und veranlasste eine Säkularisierung der Türkei, welche nun Erdogan versucht zurückzudrehen.

Den Westeuropäern die Schuld zu geben, dass der Islam, also vor 1900 das Osmanische Reich, den Anschluss verloren hatte, ist mehr als billig. Es ist einfach nur dreist.

Bewerten
- +
Ansicht umschalten