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  • Guckstu

mehr als 1000 Beiträge seit 18.03.2024

Re: Russland bedarf einer Neubewertung der eigenen Rolle in Europa.

Aneri_2021 schrieb am 20.07.2024 15:03:

Hinweis ist der folgender: Russland hat schon Richtung Asiens gedreht.

Sie versuchen es, ja.
Asien hat sich aber nicht Russland zugewandt. Die sehen Russland nur als Rohstofflieferanten und Handelspartner. Noch dazu einen, der jeden Preis akzeptieren muss, was sie weidlich ausnutzen.

Auch mental, wie ich aus der Veröffentlichungen der verbliebenen (nicht ausgewanderten) intelektuelle Elite entnehmen kann.

Die intellektuelle Elite sitzt meistens im Elfenbeinturm und hat oft sogar noch weniger Ahnung als die Politiker.
Ich kenne jetzt die russische intellektuelle Elite nicht, aber zumindest in der Öffentlichkeit ist ja nicht Intellekt gefragt, sondern Putintreue, da würde es mich sehr wundern, wenn irgend etwas von dort in der Realität verankert ist.
Bei Ausnahmeintellektuellen vielleicht. Aber die werden nicht veröffentlicht.

Mit anderen Worten: Was du da liest, sind die Wunschträume Putins, gespiegelt und variiert durch die jeweilige persönliche Perspektive, aber die Grundthesen werden nie in Frage gestellt.
Wenn diese Annäherung an Asien nicht funktioniert, werden sie es also nicht merken.
Und ich bezweifle stark, dass die russische Kultur aus Moskau überhaupt eine Vorstellung davon hat, wie Asien denkt. Die kennen ihre eigenen asiatischen Völker ja nur als Unterlinge, nicht als Staatsleute, und sie werden schon deshalb mit jeder Menge falscher vorgefasster Meinungen anfangen; ob da was Sinnvolles bei rauskommen kann?

Zwar sieht es etwas chaotisch, die neue Identität ist noch in der Suche-Stadium, aber die Entschlossenheit ist deutlich spürbar.

Ja, Entschlossenheit ist sicher da.
Aber die Asiaten scheinen sie damit ziemlich auflaufen zu lassen.
Jedenfalls, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was über die Öl- und Gasgeschäfte geschrieben wird. Und mehr als Öl und Gas hat Russland ja für Asien auch nicht zu bieten, die Ideen und die Kultur interessieren dort keinen, die Vorbildfunktion für gutes Management oder gute Staatsführung haben sie auch nicht.

So eine Umorientierung hilft ja nur, wenn das neue Gegenüber überhaupt Interesse hat, und davon ist wirklich nichts zu merken.

Übrigens eine von den Ideen ist (es ist keine Bewertung, nur zur Kenntnis!), dass Russland die europäische Aufklärungskultur - ihre Grundlagen, die R. sieht vom Westen verraten, rettet für die Zukunft.

Das ist tatsächlich Teil des russischen Selbstverständnisses.

So wie ich verstehe, wird auf dem Fundament neue Gebäude entstehen. Und so scheint es, dort wird viele asiatische Züge erkennbar. Also will Russland - jetzt ist es meine Interpretation - seine asiatische Züge nicht weiter verleumden.

Nitpick: "verleugnen", nicht "verleumden".

Ernsthafter: Nein, Russland hat kein Interesse an seinen asiatischen Wurzeln. Die gab es ohnehin nie; die russische Kultur ist die einer Befreiung aus der tatarischen Oberherrschaft.
Natürlich gab und gibt es asiatische Einflüsse, aber da die asiatischen Völker innerhalb Russlands immer als Kolonialvölker zweiter Klasse behandelt wurden, sind die asiatischen Vorbilder eher so zu sehen wie die Schwärmerei der deutschen Romantiker für den Islam, oder die der modernen Eso-Szene für "asiatische Weisheitslehren": Man pickt sich raus, was einem gefällt, und ignoriert, was einem nicht passt.

Andere Hinweis ist logisch. Wenn Russland in Europa unerwünscht ist, was, wie wir wissen, auf Handel sich auswirkt, dann Hauptrichtung des Handels zur asiatischen Raum sich richten wird. Es IST schon passiert und wird weiter ausgebaut, sieh neue Pipelines.

Das versuchen sie, ja.
Aber die Chinesen wollen die Pipelines nicht bezahlen und Russland kann sie nicht bezahlen.
Und China will einen Preis zahlen, der niedriger ist als das, was Russland bräuchte.
Wobei China auch nicht so schrecklich viel zahlen kann, weder für Pipelines noch für Gas, China hat selbst eine Schuldenblase an der Backe und braucht eigentlich jeden Fitzel Geld dafür, die eigene Wirtschaft am Zusammenbruch zu hindern.

Aber den Chinesen ist das Hemd halt ganz grundsätzlich näher als der Rock. Die russische Vorstellung, dass man mit China so schön, so profitabel und unkompliziert Handel treiben kann wie mit den Deutschen oder dem Westen, die ist wohl gar nicht so fundiert.

Auf diese Handelnknoten werden neue Städte/Metropolen entstehen, was ihrerseits Intelektuelle und Künstler anziehen bzw. selbst diese erzeugen werden.

Du malst hier Bilder, noch bevor überhaupt klar ist, ob die Grundierung hält.
Das ist voreilig.

Es ist zwar in Zeiten des Internets die physische Anwesenheit für Kommunikation nicht notwendig, dennoch rein intuitiv denke ich, dass bei solchem Zusammenspiel - zwei Machtpole auf beiden Enden - die zentrifugale Kräfte könnten gefährlich für staatlichen Zusammenhalt sein.

Nö. Russland hat Sibirien immer durch Unterdrückung und Erpressung auf Kurs halten können, und da die industrielle und technologische Basis immer im Westen verblieben ist, blieben die Sibiriaken weitgehend unter sich und unterdrückt.

Sollte Russland versuchen, eine Metropole im Osten aufzubauen, könnte es natürlich tatsächlich Zentrifugalkräfte geben.
Und genau deshalb werden sie alles weiter auf Moskau zentralisieren. Rein wegen des Machterhalts.

Wenn schon ein Einwand gegen diese Entwicklung gibt, sind sie mentaler Natur: Die Verankerung in der Geschichte, die Symbolhaftigkeit gegenwärtiger Hauptstadt.

Nee, meine Einwände sind sehr viel konkreter :-)

Zweitens entsteht aus bloßer Reibung zwischen Kulturen nicht von selbst was Positives.

Reibung mag schmerzhaft sein. Einer oder anderer mag es nicht verkraften und geht unter. Anderer aber springt höher als er normaleweise machen könnte. Man mobilisiert innere Kräfte... Bis jetzt aber noch scheint Russland solche Kräfte zu haben und in Zukunft kann keiner gucken.

Russland hat in punkto Zugehen auf Asiatisches weniger hingekriegt als Mercedes-Benz.
Das sagt eigentlich schon alles: trotz geografischer Nähe sind sie da nicht weit.
Aber Russland ist halt hauptsächlich mit innerem Machterhalt beschäftigt, Beziehungen mit dem Ausland auf gleichberechtigter Basis kennen sie nur als Rivalität, mit den USA, nicht als Kooperation.

Sonst hätten sich Russland und Westeuropa längst gegenseitig befruchtet, aber die beiden Kulturkreise lehnen sie gegenseitig fast nur ab, insbesondere in der Politik, aber auch in anderen Bereichen.

Hatten sie doch schon längst. Russland hatte es nie verneint und auch jetzt wirft sie nicht alles ab, wie ich oben erwähnt habe. Es tut Westen und zeigt seine Unbildung oder eher ideologische Blendheit. Haben russische Künstler: Schriftsteller, Musiker, Maler etc. nicht europäische Kultur entschieden bereichert? Unlängst habe ich etwas über Äußerung eines Nobelpreissträgers (weis ich nicht wer), dass ohne russische Entdeckungen würde 40% Entdeckungen, die auf deren Grundlage füßen, nicht zustande gekommen.

Das ist schon länger her.
Seit Stalin war da nichts mehr.

Nicht unbedingt mein Thema, aber hier kommt mir in Sinn Mendelejev (Periodensystem), Lobatchewskis Geometrie (zwei Parallelen können sich kreuzen), Pablovsche Reflex und viele viele andere.

Na ja.
Klar, Mendelejev war wichtig, aber Ideen sind nicht an einzelne Personen gebunden, sondern entstehen aus bestehenden Ideen und der "geniale Entdecker" war nur der Erste, der die neu sichtbar gewordenen Fäden miteinander hat verknüpfen können. Das Periodensystem ist ohnehin ein Kind vieler, vieler Forscher - wobei man die Leistung Mendelejews nicht kleinreden sollte, aber ohne den hätte es eben ein anderer Forscher hingekriegt; die einzige Voraussetzung fürs Periodensystem waren ausreichend genaue Messmethoden in der Chemie, nicht die Ideen von Genies.

Und auf einen Mendelejew gab es eben auch einen Lyssenko. Einen Antigenetiker, der die Pflanzenzucht der Sowjetunion über zwei Jahrzehnte (~1940 - 1964) auf einem Holzweg gehalten hat, einfach nur durch politische Protektion.

Es gab noch mehr, glaube ich. Ich buche das unter "politisch gestützte Pseudowissenschaft", dazu gehört z.B. auch die "germanische Wissenschaft" unter den Nazis.

Was Politik angeht, glaube ich, folgt sie Interessen oder besser gesagt - dem Geld bzw. dem Geruch nach Geld.

Gar nicht unbedingt.
In Russland ist Geld eher die Belohnung für Gefolgschaftstreue, da zählt der gute Kontakt zu Putin.
Geld spielt eine große Rolle, wo Lobbyismus möglich ist. Aber selbst dort ist es nicht alles bestimmend, wenn ein Politiker um seine Wiederwahl fürchten muss, wird er gleichzeitig für die Geldgeber uninteressant und hört auch nicht auf sie, und das sind die Momente, in denen Geld dann doch keine Rolle spielt.

Aber, klar, Geld spielt schon eine große Rolle.

Drittens: Warum sollte Europa absinken?

Es hat eine milde Wirtschaftsverstimmung. China hingegen hat wirtschaftlich grad Brechdurchfall, und in den USA beobachten wir gerade den Niedergang in Richtung Diktatur, was in einigen Jahrzehnten wohl eher einen wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang bedeuten wird.

Vielleich die Nähe zum Geschehen blendet dich? Ich möchte das Thema wie Faß ohne Boden nicht aufmachen. Kann sagen nur meine Empfindungen. Wenn ich vor 20 Jahren hörte über Niedergang des Westens, hatte ich nur innerlich gelacht: Man sieht das, was man sehen will. Jetzt aber denke ich, dass damalige Analytiker waren sehr empfindsam für das, was geschieht in der Welt.

Na ja. Da war es dann deine Nähe zu diesen Analytikern, vielleicht?
Also, nur als mögliche Vermutung. Aber es ist schon so: Bewegt man sich in einem Zirkel, in dem eine bestimmte Meinung immer wieder wiedergegeben wird, übernimmt man sie irgendwann. Das ist fast überhaupt nicht zu vermeiden, selbst wenn man genau weiß, was geschieht, WILL man das glauben.
Sozialer Status ist dem Menschen immer schon wichtiger gewesen als Wahrheit.

Wobei hier muss ich etwas korrigieren. Wenn ich schreibe Niedergang oder deute dein "Absinken", denke ich nicht um das Verschwinden von Bildfläche, wie etwa altertümliche Reiche. Ich bin hier sogar überzeugt, dass unseres Staatenwesen bleibt bestehen, die westliche Kultur (sicher noch weiterentwickelt aber nicht prinzipiell Neues schaffend) bleibt bestehen. Nur eben in weiterer Zukunft wird nicht das Westen in die Welt strahlen sondern die andere.

Also, vor 10 Jahren hätte ich dir insoweit Recht gegeben, als die Chinesen damals keine Schwächen gezeigt haben. Ich hätte eine gewissen Skepsis geäußert, weil die Erfahrung lehrt, dass solche scheinbar starken Akteure oft im Innern brüchig sind und es nur eine Frage der Umstände ist, welche Brüche sich wie äußern.
Und siehe da, die Amis werden wieder isolationistischer und verlieren schon deshalb an weltweitem Einfluss.
Und siehe da, die Chinesen haben ihre Stärke mit einer gigantischen Immobilienblase aufgezogen, und sobald diese Blase platzt, platzt auch die Stärke. Ist den Japanern genauso gegangen, und genau wie die Japaner damals ziehen auch die Chinesen jetzt nicht die nötigen Konsequenzen. KÖNNEN es vielleicht auch nicht, wer weiß.
Und siehe da, Europa, zu Reagans/Bushs Zeiten als "alter kranker Mann" mit "Eurosklerose" verspottet, ist mittlerweile groß genug, um den Amis zumindest Beachtung von Dingen wie Umweltnormen und DSGVO abzunötigen.

Oh Fortuna,
velut luna,
statu variabilis
semper crescis
aut decrescis

Oh Schicksal/Glück
wie der Mond
änderst du dich
ständig wächst du
oder schrumpfst du

:-)

Alles bleibt gleich, aber nichts bleibt, wie es ist.

Russland hingegen verheizt seine Wirtschaft in einem Krieg, egal, ob es ihn gewinnt oder verliert; wenn sie gewinnen, sind sie eigentlich zu weiterer Kriegswirtschaft und tatsächlich Raubkriegen gezwungen, wenn sie einen endgültigen und sehr langfristigen Wirtschaftszusammenbruch verhindern wollen.

na ja, ein Staat hinter Atlantik lebt so mindestesn 8 Jahrzente und ihm scheint nicht schlecht zu gehen :(...

Nee, die USA lebt nicht von Raubkriegen.
Die bezahlen für ihre Importe. Tatsächlich.
Nicht alles, aber tatsächlich das meiste.

Kriege führen sie nur für ganz wenige Schlüsselrohstoffe, und selbst da sind sie von der Idee eigentlich abgekommen.
Politikerbeeinflussung ist billiger und effektiver.

Und ja, ich sehe daran ein Problem. Auch, dass wir europäer kopieren dieses Mechanismus ein, unter anderem unsere derzeitliche wirtschaftliche Probleme auf die Weise lösen hoffen.

Europa täte nichts lieber, als ohne diesen Krieg auszukommen!
Bevor die Russen angegriffen haben, hat sich Europa ja sogar standhaft geweigert, überhaupt ein Militär aufzubauen. Die Einzigen, die tatsächlich um Rohstoffe Krieg geführt haben, waren die Franzosen, in Afrika, und auch das nur wegen dem Uran. Und das fliegt ihnen gerade ziemlich böse um die Ohren.

Die meisten Machtzentren auf der Welt sind eher durch die Unzulänglichkeiten ihrer Gegner und Konkurrenten großgeworden, nicht unbedingt aus eigener Kraft.

Was ist eigene Kraft? Warum z.B. die Fundamente gegenwärtigen Kulturen um etwa 37° Breitengrad entstanden? War es doch Klima, geographische Gegebenheiten, die diese Kräfte erst initiirten. Oder die Zufälligkeit der Tier- und Pflanzenwelt, die potentiell domestizierbaren Arten hervorgebrachte und andere Teile der Welt, die "robustere" Tiere hatte und keine Getreide hatte, war im Nachteil...

Das auch, aber sobald du Handel hast, spielt das Klima nicht mehr die bestimmende Rolle, sondern nur noch, ob man überhaupt etwas anzubieten hat, und das muss ja nichts Klimaabhängiges sein.

Die Römer sind gewachsen, weil die Nachbarn das römische Gesellschaftsmodell toll fanden. Die haben sich teilweise sogar freiwillig unterworfen - endlich Wein und Fenster! (Für die Adligen, natürlich, aber trotzdem.)
Die EU übt einen ganz ähnlichen Sog aus, nur dass sie dafür nicht mal Eroberungskriege führt, was die Römer durchaus auch getan haben.

Ägypten ist daran untergegangen, dass es sich verhoben hat, und wurde erst von Alexander, dann von den Römern überwältigt - aber beides nur, weil Ägypten schwach geworden war, nicht, weil die jungen Emporkömmlinge so stark waren.
China ist den Europäern unterlegen gewesen, weil es in seinem Hochmut geglaubt hat, die neuen Technologien von dort seien irrelevant. Die Japaner haben demonstriert, wie man aus so einer Situation einen Vorteil macht, die Chinesen, wie man an ihr untergeht.
Das zaristische Russland ist daran untergegangen, dass es ausschließlich auf den Pelzhandel gesetzt hat und die Ressourcen zurückgegangen sind, als Pelze auch anderswo zu haben waren (auf dem Höhepunkt war das Zarenreich stinke-stinke-reich). Das bolschewistische Reich ist an unzureichendem Wirtschaftswachstum eingegangen, das heutige Russland wird daran endgültig untergehen und entweder das Schicksal der sonstigen Rohstoffländer teilen oder komplett implodieren (beides nicht gut, nicht für die Russen und nicht für die Welt); Russland hat ja aufgehört, Ingenieure auszubilden, wie ich höre, und die Ingenieure der Sowjetzeit gehen momentan massenhaft in Rente.

Es gibt so viele Beispiele, und alle haben gemeinsam: Wer an der Spitze steht, muss ständig einen Vorsprung wahren, sonst stellt sich über kurz oder lang wer anders an die Spitze.
In der heutigen Welt definieren Wirtschaftskraft und Technologie die Spitze (das war nicht immer so, in Feudalzeiten war es der landwirtschaftliche Ertrag), und Europa fördert beides, China scheitert gerade an der Wirtschaft und ist bei der Technologie immerhin Mittelfeld, die USA sind wirtschaftlich immer noch sehr, sehr stark und lassen aber bei der Technologie gerade kräftig nach, das US-Ausbildungssystem ist ja auch marode und obendrein durch ideologische Grabenkämpfe gelähmt.

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