Irgendwie kommt mir das alles sehr bekannt vor: Travis Hirschi und
Michael Gottfredson (1990), Theory of low-self-control
Kurz: Der Einzelne wird nicht gewalttätig, wenn er über eine hohe
Selbstkontrolle/Selbstdisziplin verfügt. Ist diese nicht vorhanden,
muss die externe Kontrolle erhöht werden.
Was dieses Paradigma völlig übersieht: Auch in der Gesellschaft sehr
gut integrierte Menschen werden kriminell (z.B.
Wirtschaftsstraftäter) oder gewalttätig (z.B. sonst ganz unauffällige
Familienväter).
Die Theorie übersieht schlicht, dass für die Annahme einer geringen
Selbstkontrolle eine Art Abwägung der Vor- und Nachteile einer
Straftat beim Täter stattfinden müsste. Das ist aber gerade bei
Gewaltdelikten, die häufig aus der Situation heraus entstehen, nicht
der Fall. Es findet schlicht keine Abwägung statt. Wäre das der Fall,
würden Strafverschärfungen auch etwas bringen. Tun sie aber nicht.
Die Theorie geht implizit von einem homo oeconomicus aus, der nach
Art und Weise des rational-choice-Paradigmas durch sein Leben geht.
Dass wir viel stärker von Werten geleitet werden als von einer
Kosten-Nutzen-Abwägung wird einfach unterschlagen.
Außerdem werden die Faktoren nicht erläutert, was Ausdruck einer
geringen Selbstkontrolle sein soll oder wie diese entsteht.
Stattdessen werden willkürlich Verhaltensweisen herausgegriffen, z.B.
übermäßiger Alkohol- oder Drogenkonsum, kleinere Diebstähle (als
Zeichen geringer Selbstkontrolle). Darauf aufbauend wird eine
"kriminelle Karriere" postuliert, die empirisch so nicht nachweisbar
ist.
Insgesamt fördert diese Theorie autoritäre Staatsdogmen (ist die
Kriminalität zu hoch, muss der äußere Druck auf die Individuen erhöht
werden), wie sie speziell im Kriminaljustizsystem der USA seit den
90er Jahren zu beobachten waren. Da wurde massiv eingeknastet, aber
die Kriminalitätsrate blieb nahezu stabil. Was denkt da der
Amerikaner? Nicht etwa "Hm, dann bringt das also nix". Nein, er
denkt: "Wir haben noch nicht genug eingeknastet". Also weiter. Der
Beginn eines Teufelskreises, denn selbstverständlich ist der harte
Strafvollzug der beste und einzige Weg, die Menschen zu einem Leben
ohne Straftaten zu bringen, klar.
Wenn Herr Pinker jetzt mehr Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung
fordert, dann leistet er all jenen erzkonservativen Strömungen
vorschub, die schon immer gegen den Freigeist waren und individuelles
Verhalten als nicht regelkonform etikettieren, um das gesamte
Jusitzsystem dagegen in Stellung zu bringen. Er kommt als echter Wolf
im Schafspelz daher. Mich würde z.B. sehr seine Haltung zu
Homosexualität interessieren. Vermutlich seiner Ansicht nach auch
eine Form der zu geringen Selbstdisziplin, die unbedingt staatlich
"behandelt" werden muss.
Letztlich irrt er sich auch über die Kriminalitätsrate in den 60er
Jahren, d.h. er zieht die falschen Schlussfolgerungen. Vermutlich
bezieht er sich auf die Zahlen im Hellfeld. Die sind in der Tat
angestiegen. Das ist jedoch größtenteils darauf zurückzuführen, dass
aufgrund einer gestiegenen Sensibilität (s. Veränderung des
Gewaltbegriffs in der Zeit damals) auch mehr Delikte angezeigt
wurden.
Es handelt sich hier um ein typisches Paradoxon, dass je bewusster
die Menschen mit Gewalt umgehen, je mehr sie sich damit beschäftigen,
desto sensibler sie werden und desto eher sie auch bestimmte
Verhaltensweisen als Gewalt wahrnehmen, die VOR der Sensibilisierung
noch als völlig normal angesehen wurden (z.B. Rauferei auf dem
Schulhof = war in den 50ern noch ganz normales Hierarchieverhalten,
heute wird sofort wg. Körperverletzung angezeigt). Ist empirisch
weitestgehend gesicherte Erkenntnis.
Was natürlich dahergelaufene Flachpfeifen wie Herrn Pinker nicht
davon abhält zu behaupten, die 60er wären der Inbegriff des
kriminellen Jahrzehnts gewesen. Nein, es ist schlicht mehr vom
Dunkelfeld ins Hellfeld gekommen, was auch gut so ist. Aber wenn auf
der Straße jemand zusammengeschlagen wird, macht er wahrscheinlich
auch die Augen zu und sagt: "Ach, es ist alles so schön friedlich
hier". Er wünscht sich schlicht die "gute" alte Zeit wieder.
Noch ein Wort zum Kapitalismus und seiner "friedensstiftenden" Kraft:
Herr Pinker meint, Kapitalismus bringe Wohlstand und setze Mittel
frei, um die Gewalt einzudämmen. Richtig daran ist, der Kapitalismus
bringe Wohlstand (allerdings nur für einen Teil der Menschen). Ob die
freiwerdenden Mittel dann aber zur Bekämpfung der Gewalt eingesetzt
werden, ist äußerst fraglich. Das ist keineswegs ein Automatismus.
Ebenso gut werden sie eingesetzt, um weitere Mittel zu akquirieren -
was wiederum auch mit Gewalt geschieht. Letzlich wiederum alles eine
Frage der Werte, und zwar derjenigen Menschen, die die Mittel
akquirieren. Und da muss man sich doch mal fragen, welche Werte da
vorherrschend sind. Ich sage nur "Vorfahrt für Wachstum" und
"Panzerdeal".
Kapitalismus mag eine gewisse befriedende Wirkung haben, allerdings
nur nach innen. An den Außenrändern wird nach wie vor mit äußerst
harten Bandagen gekämpft. Der "erarbeitete" Wohlstand will ja
schließlich auch gegen all die Hungerleider verteidigt werden.
Wenn Herr Pinker meint, dem Kapitalismus sind lebendige Menschen mehr
wert als tote, dann handelt es sich hierbei um eine äußerst
romantische und völlig naive Ansicht. Dem Kapitalismus sind Menschen
schlicht egal. Sie sind nur eine Zahl, eine Kostenstelle in der
Bilanz. Umgekehrt sind nicht alle lebenden Menschen Konsumenten. Es
kommt schlicht auf die Kaufkraft an. Was interessiert sich z.B. Apple
für die hungernden Kinder im Südsudan?
Oder wie es Volker Pispers ausdrückte: Wenn in New York zwei Türme
zusammenstürzen und 3000 Menschen ihr Leben verlieren, dann bricht
bei uns gleich die Börse um 3% ein. Wenn aber in Ruanda eine Million
Tutsis von den Hutus abgeschlachtet werden, interessiert das dann
"unsere" Wirtschaft? Nein, denn 1 Millionen Afrikaner sind nicht mal
halb so "wertvoll" wie 1 Amerikaner. Dem Kapitalismus sind die
Menschen (als Menschen) erstmal völlig egal.
Wenn Herr Pinker also von einer "friedensstiftenden" Kraft des
Kapitalismus schwadroniert, dann liegt das vermutlich daran, dass er
sich damit (ebenso wie mit den Kriminalitätstheorien) nur sehr
unzureichend beschäftigt hat. Als Satire taugen seine geradezu
zynischen Statements damit leider nicht.
Michael Gottfredson (1990), Theory of low-self-control
Kurz: Der Einzelne wird nicht gewalttätig, wenn er über eine hohe
Selbstkontrolle/Selbstdisziplin verfügt. Ist diese nicht vorhanden,
muss die externe Kontrolle erhöht werden.
Was dieses Paradigma völlig übersieht: Auch in der Gesellschaft sehr
gut integrierte Menschen werden kriminell (z.B.
Wirtschaftsstraftäter) oder gewalttätig (z.B. sonst ganz unauffällige
Familienväter).
Die Theorie übersieht schlicht, dass für die Annahme einer geringen
Selbstkontrolle eine Art Abwägung der Vor- und Nachteile einer
Straftat beim Täter stattfinden müsste. Das ist aber gerade bei
Gewaltdelikten, die häufig aus der Situation heraus entstehen, nicht
der Fall. Es findet schlicht keine Abwägung statt. Wäre das der Fall,
würden Strafverschärfungen auch etwas bringen. Tun sie aber nicht.
Die Theorie geht implizit von einem homo oeconomicus aus, der nach
Art und Weise des rational-choice-Paradigmas durch sein Leben geht.
Dass wir viel stärker von Werten geleitet werden als von einer
Kosten-Nutzen-Abwägung wird einfach unterschlagen.
Außerdem werden die Faktoren nicht erläutert, was Ausdruck einer
geringen Selbstkontrolle sein soll oder wie diese entsteht.
Stattdessen werden willkürlich Verhaltensweisen herausgegriffen, z.B.
übermäßiger Alkohol- oder Drogenkonsum, kleinere Diebstähle (als
Zeichen geringer Selbstkontrolle). Darauf aufbauend wird eine
"kriminelle Karriere" postuliert, die empirisch so nicht nachweisbar
ist.
Insgesamt fördert diese Theorie autoritäre Staatsdogmen (ist die
Kriminalität zu hoch, muss der äußere Druck auf die Individuen erhöht
werden), wie sie speziell im Kriminaljustizsystem der USA seit den
90er Jahren zu beobachten waren. Da wurde massiv eingeknastet, aber
die Kriminalitätsrate blieb nahezu stabil. Was denkt da der
Amerikaner? Nicht etwa "Hm, dann bringt das also nix". Nein, er
denkt: "Wir haben noch nicht genug eingeknastet". Also weiter. Der
Beginn eines Teufelskreises, denn selbstverständlich ist der harte
Strafvollzug der beste und einzige Weg, die Menschen zu einem Leben
ohne Straftaten zu bringen, klar.
Wenn Herr Pinker jetzt mehr Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung
fordert, dann leistet er all jenen erzkonservativen Strömungen
vorschub, die schon immer gegen den Freigeist waren und individuelles
Verhalten als nicht regelkonform etikettieren, um das gesamte
Jusitzsystem dagegen in Stellung zu bringen. Er kommt als echter Wolf
im Schafspelz daher. Mich würde z.B. sehr seine Haltung zu
Homosexualität interessieren. Vermutlich seiner Ansicht nach auch
eine Form der zu geringen Selbstdisziplin, die unbedingt staatlich
"behandelt" werden muss.
Letztlich irrt er sich auch über die Kriminalitätsrate in den 60er
Jahren, d.h. er zieht die falschen Schlussfolgerungen. Vermutlich
bezieht er sich auf die Zahlen im Hellfeld. Die sind in der Tat
angestiegen. Das ist jedoch größtenteils darauf zurückzuführen, dass
aufgrund einer gestiegenen Sensibilität (s. Veränderung des
Gewaltbegriffs in der Zeit damals) auch mehr Delikte angezeigt
wurden.
Es handelt sich hier um ein typisches Paradoxon, dass je bewusster
die Menschen mit Gewalt umgehen, je mehr sie sich damit beschäftigen,
desto sensibler sie werden und desto eher sie auch bestimmte
Verhaltensweisen als Gewalt wahrnehmen, die VOR der Sensibilisierung
noch als völlig normal angesehen wurden (z.B. Rauferei auf dem
Schulhof = war in den 50ern noch ganz normales Hierarchieverhalten,
heute wird sofort wg. Körperverletzung angezeigt). Ist empirisch
weitestgehend gesicherte Erkenntnis.
Was natürlich dahergelaufene Flachpfeifen wie Herrn Pinker nicht
davon abhält zu behaupten, die 60er wären der Inbegriff des
kriminellen Jahrzehnts gewesen. Nein, es ist schlicht mehr vom
Dunkelfeld ins Hellfeld gekommen, was auch gut so ist. Aber wenn auf
der Straße jemand zusammengeschlagen wird, macht er wahrscheinlich
auch die Augen zu und sagt: "Ach, es ist alles so schön friedlich
hier". Er wünscht sich schlicht die "gute" alte Zeit wieder.
Noch ein Wort zum Kapitalismus und seiner "friedensstiftenden" Kraft:
Herr Pinker meint, Kapitalismus bringe Wohlstand und setze Mittel
frei, um die Gewalt einzudämmen. Richtig daran ist, der Kapitalismus
bringe Wohlstand (allerdings nur für einen Teil der Menschen). Ob die
freiwerdenden Mittel dann aber zur Bekämpfung der Gewalt eingesetzt
werden, ist äußerst fraglich. Das ist keineswegs ein Automatismus.
Ebenso gut werden sie eingesetzt, um weitere Mittel zu akquirieren -
was wiederum auch mit Gewalt geschieht. Letzlich wiederum alles eine
Frage der Werte, und zwar derjenigen Menschen, die die Mittel
akquirieren. Und da muss man sich doch mal fragen, welche Werte da
vorherrschend sind. Ich sage nur "Vorfahrt für Wachstum" und
"Panzerdeal".
Kapitalismus mag eine gewisse befriedende Wirkung haben, allerdings
nur nach innen. An den Außenrändern wird nach wie vor mit äußerst
harten Bandagen gekämpft. Der "erarbeitete" Wohlstand will ja
schließlich auch gegen all die Hungerleider verteidigt werden.
Wenn Herr Pinker meint, dem Kapitalismus sind lebendige Menschen mehr
wert als tote, dann handelt es sich hierbei um eine äußerst
romantische und völlig naive Ansicht. Dem Kapitalismus sind Menschen
schlicht egal. Sie sind nur eine Zahl, eine Kostenstelle in der
Bilanz. Umgekehrt sind nicht alle lebenden Menschen Konsumenten. Es
kommt schlicht auf die Kaufkraft an. Was interessiert sich z.B. Apple
für die hungernden Kinder im Südsudan?
Oder wie es Volker Pispers ausdrückte: Wenn in New York zwei Türme
zusammenstürzen und 3000 Menschen ihr Leben verlieren, dann bricht
bei uns gleich die Börse um 3% ein. Wenn aber in Ruanda eine Million
Tutsis von den Hutus abgeschlachtet werden, interessiert das dann
"unsere" Wirtschaft? Nein, denn 1 Millionen Afrikaner sind nicht mal
halb so "wertvoll" wie 1 Amerikaner. Dem Kapitalismus sind die
Menschen (als Menschen) erstmal völlig egal.
Wenn Herr Pinker also von einer "friedensstiftenden" Kraft des
Kapitalismus schwadroniert, dann liegt das vermutlich daran, dass er
sich damit (ebenso wie mit den Kriminalitätstheorien) nur sehr
unzureichend beschäftigt hat. Als Satire taugen seine geradezu
zynischen Statements damit leider nicht.