Der Autor dieses Artikels ist also ein Korrespondent der Süddeutschen in Beijing. Viele seiner Beobachtungen sind durchaus zutreffend, so wirkt die benannte App als eine Art Passierschein zum Betreten von (semi)öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln etc. - also genau die Orte, wo man durchaus eine erhöhte Ansteckungsgefahr vermuten würde. Leider vergißt der Autor zu erwähnen, wie genau die App funktioniert, da hätte er auch die Erklärung, warum sie einmal 'Gelb' anzeigte. Die App nutzt die Bewegungsdaten der Nutzer, wenn er also mal in der Nähe einer anderen Person war, die ebenfalls Gelb oder gar Rot hatte, wird er als potentiell infiziert markiert und ein Test empfohlen, ggf. auch Quarantäne. Die Chinesen spaßen in Sachen Covid nicht rum, das sollte inzwischen bekannt sein. Wenn also der 'Kontakt' zwischenzeitlich als 'gesund' markiert wurden, springt das natürlich für alle in seiner Nähe markierten ebenfalls um - natürlich ist kein System perfekt, aber es scheint soweit zu funktionieren.
Und das ist der Punkt, wo ich den Artikel als 'unvollständig' kritisiere (abgesehen von Zenz und den üblichen einseitigen China-Bashing): das System funktioniert und bietet damit den Bürgern eine überraschend große Freiheit, auch wenn das für uns paradox klingt. Lockdowns gibt es nur noch lokal und es wird sofort massenhaft getestet, so eine Millionenstadt ist da in wenigen Tagen durch und das Leben geht wieder normal weiter, während wir uns von einem Lockdown light zum anderen hangeln.
Ein weiterer Punkt: der Autor ist Auslandskorrespondent, er soll also eine Verständnisbrücke zwischen seinem Gastland und seinen Lesern schlagen, er sollte vom tagesaktuellen Geschehen berichten, vom Alltagsleben, auch durchaus von seinen persönlichen Eindrücken. Leider hat er in seinem Artikel nur letzteres gemacht: seine persönliche Meinung als westlich geprägter Mensch und Journalist einer westlichen Zeitung. Ich vermisse hier folgendes: was halten denn die Chinesen von allem? Letztendlich sind SIE es doch, die dort langfristig leben. Warum hat er nicht die Leute befragt und deren Eindruck geschildert - DAS wäre doch interessant. Die Meinung des Autors sind doch eher zweitrangig und spiegelt wohl ohnehin die bereits verfestigten Eindrücke/Vorurteile unserer Bevölkerung wider. Es wäre ja durchaus möglich, daß die Chinesen diesen 'Überwachungsapparat' gar nicht als so schlimm empfinden, wie wir, ihn vielleicht sogar begrüßen, weil er ein gewisses Sicherheitsgefühl vermitelt.
Es ist wohl alles eine Frage der Prioritäten sowie des Vertrauens in den Staat. Über 90% der chinesischen Bevölkerung stehen hinter ihrer Regierung, daher stehen sie diesen Maßnahmen eher positiv gegenüber - zumal sie (besonders bezogen auf Covid) offenbar wirken. Sie sehen sie eben nicht als Unterdrückungsmaßnahme. Anders natürlich bei uns. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung in den westlichen Ländern ist eher gering, daher werden solche und ähnliche Maßnahmen natürlich sehr viel kritischer betrachtet, hinzu kommt auch der sehr viel ausgeprägtere Individualismusgedanke - die kulturelle Komponente sollte man da auch nicht außer Acht lassen.
Und das ist es, was in dem Artikel fehlt: die Perspektive des Gastlandes und seiner Bevölkerung, es fehlt die Aufklärungsarbeit, die Empathie. Darauf aufbauend können wir als Leser uns noch immer eine Meinung bilden. Die muß ja nicht zwangsläufig China in den Himmel loben oder sofort verteufeln. Es sollte aber für Verständnis sorgen, bzw. für Verstehen - warum werden diese oder jene Maßnahmen gemacht, werden sie von der Bevölkerung getragen oder nicht - ob diese bei uns 1:1 fonktionieren würden fällt dann eher in den Bereich der Spekulation und persönlichen Meinung. Auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole: das chinesische System scheint gut für China zu funktionieren, das heißt aber nicht, daß es auch bei uns funktionieren würde. Immerhin scheinen die Chinesen nicht sehr bestrebt darin zu sein, ihr System auf andere Länder (gewaltsam) übertragen zu wollen - solange sie das weiterhin beherzigen, haben sie zumindest bei mir einen gewissen Pluspunkt.