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  • Leser2015

491 Beiträge seit 19.11.2015

Russlands Machtverhältnisse & Innenpolitik in Deutschland nahezu unbekannt

Leider bleibt Professor Grigori Judin im Interview etwas blass, zumal Durchschnittsdeutsche wie ich weder über das politische Russland noch den Alltag der russländischen Bevölkerung viel wissen; gehaltvoller sind zwei ältere Interviews mit Grigori Judin, besonders eines aus der Zeit vor dem bewaffneten Konflikt:

»In Russland droht ein faschistisches Regime« (Grigori Judin gegenüber analyse & kritik, David Ernesto García Doell, 30.03.2022) – https://www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/

»Die Kreml-Eliten stehen für gar nichts« (Grigori Judin gegenüber der Wiener Zeitung, Gerhard Lechner, 08.06.2020) – https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2063291-Die-Kreml-Eliten-stehen-fuer-gar-nichts.html

Scheinbar ist Russland in den letzten Jahren politisch deutlich nach rechts gerückt, weil Putin russisch-identitären Positionen weniger entgegentritt als noch im Jahre 2012 (vgl. etwa https://www.swp-berlin.org/publikation/putin-und-die-nationale-frage). Was hat sich innenpolitisch seither geändert? Und wie steht es wirklich um die Meinungsfreiheit? Immerhin kann sich zum Beispiel ein Alexei Nawalny, politisch auch eher rechts, selbst aus der Haft heraus regelmäßig öffentlich äußern, was etwa in Deutschland fast unmöglich wäre; und man möchte sich kaum vorstellen, wie es einem deutschen Professor erginge, der die eigene Regierungspolitik ähnlich vehement kritisierte, beispielsweise im Kontext der Covid-Pandemie, wie Grigori Judin Russlands Intervention in der Ukraine.

Wie es für mich aussieht, hat Wladimir Putin in Russland zumindest etwas geschafft, wofür auch Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine gewählt worden war: Bekämpfung der (in Russland in den 90er-Jahren) extremen Kriminalität und politische Entmachtung der Oligarchen samt deren Privatarmeen. Natürlich zu einem Preis:

»Diese Botschaft gilt eben nicht nur für die Oligarchen, sondern für die gesamte Bevölkerung. Diese Entpolitisierung der Sphäre des Politischen, dieses Raushalten der Bevölkerung aus der Politik hat aber Folgen. Politiker werden in Russland in der Regel tief verachtet. Einzig Putin gelingt es – zumindest bei manchen – noch mit Mühe, sich als derjenige darstellen, der als Präsident quasi über den Sphären der dreckigen Politik schwebt. Nun hat das Vertrauen in die Politik bekanntlich nicht nur in Russland gelitten, sondern weltweit, auch im Westen. Die Entwicklung in Russland verläuft aber wie unter einem Brennglas. Man vertraut keinem Politiker, traut niemandem zu, einen Wandel zum Positiven bewirken zu können, auch keinen konservativen Politikwechsel. Die russische Führung ist sehr flexibel. An einem Tag gibt sie sich liberal, dann wieder sozialistisch und dann konservativ.« (Grigori Judin, 08.06.2020)

Wenn jene ältere Einschätzung aus dem WZ-Interview noch immer trägt, so relativierte dies die pauschale Angsthypothese Grigori Judins aus dem aktuellen. Und natürlich hat Russland das geopolitische Problem, dass der Westen nie an echter Sicherheitspartnerschaft interessiert war, sondern an Überlegenheit in allen nur denkbaren Bereichen, und das bei einem erheblichen Wohlstandsgefälle auch nach Ende des Kalten Kriegs, weshalb der westliche Militärblock für viele Nachbarn bis heute attraktiver wirken muss, denn es geht bei einer solchen Wahl neben den sicherheitspolitischen zugleich um ökonomische Vorteile.

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