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  • Karl-Katja Krach

528 Beiträge seit 09.07.2019

Die Metaphysik der Repräsentation lässt sich dekonstruieren.

Wenn wir über den Sinn der Theologie für die Wissenschaft diskutieren - diesen Sinn zweifeln Naturalist:innen schließlich an - und die Vereinbarkeit der naturwissenschaftlichen und der theologischen Wissensdisposita streiten, dann müssen wir uns über das Verständnis, aus dem Wissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie betrieben werden, im Klarem werden.

Der Streit, wie er von Stefan Schleim beschrieben wird, ist ein Streit innerhalb der Metaphysik der Repräsentation. Das heißt, dass sowohl die Naturwissenschaften, als auch die Religionen beanspruchen (bis auf wenige Ausnahmen), dass ihre Theorien bzw. Dogmen Abbildungen der Wirklichkeit sein sollen.
De facto kommen sie sich deswegen auch oft in die Quere. Aber wenn man es richtig angeht, muss das nicht so sein, so die Ansicht Stefan Schleims und der meisten Wissenschaftler:innen.

Wenn etwa Harald Lesch sagt, die Mathematik sei die Schrift, in der die Welt geschrieben ist, dann macht er eine Dopplung, wie sie auch beim Leibniz'schen "Buch der Bücher" zu finden ist (das alle Bücher schon enthält) und in den abrahamitischen Religionen: Die Thora, die Bibel, der Koran seien "Gottes" Wort.
Dabei wird unterstellt, die phonetische Schrift sei ein Abbild der Sprache und diese sei wiederum - durch den göttlichen Schöpfungsodem vermittelt - ein Abbild der Realität. "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort.".
An diesem Zeitpunkt der Lektüre bringt sich die Dekonstruktion ins Spiel.

Denn die Schrift ist nicht einfach nur ein Abbild ohne eigene Tiefe und Struktur. Schon ganz am Anfang bekommen die Juden die Ökonomie des Zeichens zu spüren, als der Name "Gottes" seine performative Kraft verliert, weil er zu oft benutzt wird. Das ist die Inflation des Zeichens. Im Judentum wurde den Gläubigen das Aussprechen dieses Namens daraufhin von den Priestern verboten.
Die Hyperinflation von Währungen ist das wohl naheliegenste Beispiel für die Inflation eines Zeichens und das Verbot von Geld der radikalste Vorschlag der materialistischen Wertkritik, um der Inflation von Waren in der kapitalistischen Überproduktion zuvorzukommen.

Linke Materialisten haben die Inflation des Zeichens auch anders zu spüren bekommen: Im Neoliberalismus gibt es neben der "Fitness-Revolution" die "Pizza-Revolution", die "Frische-Revolution" und tausenderlei Revolutionen mehr. Wenn heute jemand "Revolution" sagt, ist es wahrscheinlicher, er meint damit irgendeine neue Erfindung der Werbeagenturen als den Umsturz der Verhältnisse. Im Kontext der Theorie der "Kulturellen Aneignung" lassen sich viele solche Inflationen von Zeichen finden.

In der Diskussion, wie sie Stefan Schleim vorstellt, kommen auf Seite der Naturalisten zwar Bezüge auf die Historie vor, aber nur als Auszüge einer Inventur des Schreckens der Herrschaft der Religionen - nicht als Inventur des Schreckens der Technokratie und der Instrumentalisierung der Wissenschaft und auch und vor allem nicht als Bezüge auf die Historizität der Wissenschaft (und der Theologie).

Die Postmoderne ist ideengeschichtlich gelesen charakterisiert durch die Inflation der philosophischen, wissenschaftlichen und religiösen Positionen. Die Hilflosigkeit, mit der manche zeitgenössischen Menschen sich während der Corona-Pandemie teils krudesten Verschwörungserzähler:innen zuwenden, dank derer sich in der New-Age-Bewegung die Gurus multiplizierten, lässt sich auch als Effekt einer unreflektierten Inflation der Zeichens schlechthin lesen und die Renaissance reaktionärer rechter Narrative als konservative Reaktion auf diese Inflation.

Die Wissenschaft mit ihren unzähligen feinen Differenzen und auch die Theologie mit ihren kulturellen Umbrüchen, die selbst innerhalb des Katholizismus zu grundlegenden Differenzen führen, haben durch die Vervielfältigung der Positionen einen großen Teil ihrer Orientierungskraft eingebüsst. In der Grundlagenphysik haben sich die Theorien derartig vervielfältigt, dass für jede auch noch so ausgefallene metaphysische Vorliebe etwas zu finden ist. Der Widerspruch zwischen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik konnte allerdings dabei nirgends aufgehoben werden.

In dieser Situation fangen die genannten Naturalisten ihren Streit an - als die Gefahr droht, dass die Naturwissenschaft mit ihren Welterklärungen sich ins Beliebige verläuft - anstatt zu analysieren, warum sie das tut und zu überlegen, wie dem zu entgegnen sei.

Vielleicht kann an dieser Stelle die Dekonstruktion weiterhelfen, die ein nicht-repräsentatives Denken ist. Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität findet die Dekonstruktion nicht zwischen den Zeichen und der Natur, nicht als Repräsentation der Natur durch die Zeichen schon vor, sondern sie macht sie in der Verweisstruktur zwischen Zeichen und Texten aus, deren Sinn sich beim Schreiben und beim Lesen ergibt, aber nicht vorher schon da ist und im Nachhinein auch weder in vereinzelten Sätzen, noch in einem "Ganzen" gefunden werden kann. Literatur ist notwendig Volumen und Lektüre braucht notwendig Zeit.

Dieses Denken ist weder ein Substanzmonismus (reduktionistisch oder komplementaristisch) noch ein Substanzdualismus. Die Substanz wird konzeptuell durch das Substrat ersetzt, das Subjekt durch das Subjektil (die Grundschicht), ein metaphysischer Terminus jeweils durch einen technischen. Damit wird verhindert, dass rational unbeantwortbare metaphysische Fragestellungen dem dekonstruktiven Text ihre Ökonomien aufzwingen können. Widersprüche werden aufgehoben, ohne die Wahrheit aufzugeben.

Wissenschaft ist da stark, wo sie innere Widersprüche aufhebt, darauf sollten sich an grundlegenden Fragen arbeitende Wissenschaftler:innen und Philosoph:innen auch konzentrieren. Die Ökonomie des Wissenschaftsbetriebes fordert aber ständige Produktivität, immer mehr wird wissenschaftliches Arbeiten zur Ware und ein großer Teil der Wissenschaftler:innen ist prekär beschäftigt. Der TV- und-YouTube-Philosoph ist die philosophische Version des neoliberalen Unternehmers des eigenen Selbstes.
Wieviel Platz bleibt für Methodenkritik zwischen Produktionszwang und Selbstvermarktung? Wieviel Platz bleibt auf dem Marktplatz der Metaphysiken für das Schweigen gegenüber der Unendlichkeit?

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (26.04.2021 04:55).

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