[Sorry, jetzt wird es arg methodisch, was nicht arrogant gemeint ist, aber so rüberkommen kann.]
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Stefan Schleim (danke für diese Serie) spricht vom "Leib-Seele-Dualismus" und vom "Körper-Geist-Problem". An dieser Stelle lohnt es sich, genauer hinzuschauen und diese für das westliche Denken prägende doppelte Gegensatzstruktur und ihre Ökonomie kurz zu untersuchen, die den Disziplinen der Wissenschaft und der Erkenntnistheorie auf der einen und denen der Theologie und der Religionsphilosophie auf der anderen Seite ihre Vorortung gibt und ihre Trennung unterhält.
Der nichtreduktive Materialismus setzt schon einen Körper-Geist-Dualismus voraus, indem er (wie der reduktive Materialismus) methodisch eine Substanz voraussetzt, die sich als reine Quantität des Ortes, der Zeit und der Kraft bestimmt und dabei die Qualität zum unerklärbaren "Epiphänomen", zur Nebensache macht. Weil Menschen aber die Welt als eine Welt der Qualitäten - des Schönen und des Hässlichen, des Wohlschmeckenden, des Übelriechenden, des Hellen und des Dunklen, des Erhabenen, des Schmerzvollen etc. - erfahren, ergibt sich eine doppeltes strukturelles Hinhalten/Hingehaltensein der Episteme, das eine doppelte Ökonomie der Aufschiebung unterhält und seinerseits von ihr unterhalten wird.
Zum einen kann die Quantität allein - eine Ansammlung physikalischer Größen und ihrer Beziehungen - nicht das Sein der Qualität erklären, denn sonst müsste etwas aus nichts entstehen. Somit wird die Frage nach dem Ursprung oder den Ursprüngen der Qualität mit jeder neuen Theorie des Nur-Quantitativen erneut aufgeschoben.
Zum anderen nimmt der nichtreduktive Materialismus eine Vorortung der Erkenntnis in der Sprache vor und nicht in der Erfahrung und dadurch wird ihrerseits die reduktive Ersetzung der (notwendig) qualitativen Begriffe der Psychologie durch quantitive Begriffe der Neurologie unendlich aufgeschoben.
"Man muss sich bewusstmachen, dass unser Zugang zur Welt - sofern wir nicht direkt etwas sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen - vor allem sprachlicher Art ist. Wohlgemerkt: Es kann also einen Unterschied zwischen dem geben, was grundlegend und wirklich ist, und dem, was wir beschreiben und erklären können.
Auch Wissenschaftler bedienen sich nach wie vor der Sprache, um ihre Ergebnisse und Theorien zu formulieren und mit anderen auszutauschen, anstatt sie etwa zu tanzen oder zu malen. Natürlich können aber (eher bildliche) Illustrationen und Animationen eine Rolle spielen."
Es lässt sich also bereits bei der Dekonstruktion seiner metaphysischen methodischen Voraussetzungen sagen, dass dem nichtreduktiven Materialismus eine doppelte Ökonomie der unendlichen Aufschiebung eigentümlich ist, eine zugrundegelegte Zukunft und zugleich eine Grundlegung für eine Zukunft, in der eine Ankunft notwendig für immer aussteht. Diese Ökonomie unterhält die Spaltung zwischen Körper und Geist und wird ihrerseits von der Spannung dieser Trennung unterhalten.
Damit befindet sich der nichtreduktive Materialismus im Gegensatz zur Religion wie zum reduktiven Materialismus, die jeweils auf eigene Weisen von einer Ankunft in der Zukunft ausgehen, d.h., dass eine Ankunft notwendig ansteht.
Steht der reduktive Materialismus bei Marx und Engels in seiner Geschichtsmetaphysik noch für die Unausweichlichkeit der Revolution und der Ankunft des Kommunismus als das Andere des Kapitalismus, so geht diese antikapitalistische Metaphysik dem nichtreduktionistischen Materialismus ersetzungslos verloren.
Der nichtreduktionistische Materialismus befindet sich also auf einem Heideggerschen "Holzweg", der zwar nirgends ankommt, aber produktiv ist, weil auf ihm das Holz aus dem Wald getragen wird. Die geschichtsmetaphysische Ökonomie der doppelten Aufschiebung ist eine Ökonomie der Produktion von Wissensdisposita (Michel Foucault), also Theorien, die nicht nur gewissen Praxen zugrundegelegt werden, sondern die ihrerseits zugleich dem Verstehen der Welt zugrundeliegen. Damit ist diese Ökonomie der Produktion von positivem Wissen mit der kulturellen Metaphysik des Kapitalismus - der Produktion von Waren und dem Fetischismus der Ware - sehr kompatibel, was eine Ursache für ihre Popularität darstellen mag.
"Gibt es zwischen einem starken Materialismus auf der einen Seite und einem Leib-Seele-Dualismus auf der anderen noch eine Position, die sowohl philosophisch als auch wissenschaftlich haltbar ist?
[...]
Solche Positionen nennt man in der Regel nicht-reduktiven Materialismus. Damit räumt man zwar der Materie eine Vorrangstellung ein, will aber auch zum Ausdruck bringen, dass - zumindest in einem bestimmten Sinn - nicht alles Materie ist. Hier sollte man zwei Ebenen unterscheiden: die der Erklärung (epistemisch) und die des Seins (ontologisch). Was bedeutet das?"
Die Erklärung, dass in einem bestimmten, d.h. epistemischen Sinne nicht alles Materie sei, bedeutet, dass in einem anderen, d.h. ontologischen Sinne auch alles Materie sei. Die Erklärung, auf diese Weise einen Mittelweg gehen zu wollen, der dem Dualismus entgeht, spricht zwar frei von dem Versuch, einen Dualismus zu entwerfen, kann aber nicht vor Kritik hinsichtlich der Frage schützen, ob die notwendige Balance dabei auch eingehalten wird, oder ob, sobald die erkenntnistheoretischen Erklärungen beendet sind und die Kritikerin wegschaut, wieder der alte Dualismus von Körper und Geist praktiziert wird und mit und in ihm der Leib-Seele-Dualismus neu aufersteht, den auszutreiben man doch angetreten war.
Ganz so sieht es jedenfalls aus, wenn von einem Dualismus des Sinnes ausgegangen wird, einem ontologischen, d.h. materiellen, physiologischen Sinn und einem epistemischen d.h. psychologischen Sinn. Die materielle quantifizierbare Welt wird in den Epistemen der Naturwissenschaften wiedergespiegelt, die jedoch ihrerseits irreduzibel historisch bleiben, als Konstrukte, deren Sinn (nicht: deren Ökonomie) ohne die Psychologie, ohne das Andere der Naturwissenschaften nicht zu verstehen ist.
Die Problemstellung selbst ist ein Problem mit und in der Sprache, einer Sprache, der die metaphysischen Differenzen bereits eingeschrieben sind und das Problem kann nur aufgebrochen werden, wenn die Einschreibung selbst und mit ihr die Schrift in den Blick genommen werden, deren Ökonomien (nicht nur) von der analytischen Philosophie vernachlässigt werden.
Ich werde also sehen, wie der Essay von Stefan Schleim weitergeht und versuchen, meinen Kommentar dementsprechend weiter fortzuführen.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (12.04.2021 05:43).