Und gerade weil diese Fragen unentscheidbar sind, sollten wir den Leuten ihre Ansichten lassen, anders als es der Naturalist oder "neue Atheist" uns weismachen will. Leben wir ein gutes Leben, anstatt uns wegen unentscheidbarer Fragen gegeneinander aufhetzen zu lassen.
Komischerweise sind es aber gerade die Religiösen, die zu Gewalt, Krieg, Zensur und Pogromen neigen. Das lässt sich historisch kaum leugnen. Die heutige Wissenschaft ist zu großen Teilen gegen den Widerstand der Kirche entstanden. Selbst heute gibt es noch Teile des Christentums, die sich gegen die Evolutionstheorie stellen. Eigentlich waren es doch immer die Religiösen, die den anderen ihren Willen aufgezwungen haben. Deswegen halte ich für überaus fragwürdig, dass sie hier irgendwelche "Naturalisten" und "neue Atheisten" als die Bösen darstellen.
Der philosophische Punkt hat mit dem Fehlen einer Letztbegründung zu tun. Das war und ist doch auch das Ergebnis des kritischen Rationalismus: Jedes System von Überzeugungen (auch die Wissenschaften!) braucht eine Letztbegründung, die selbst nicht mehr weiter begründet werden kann. Der (angebliche) Streit zwischen Naturwissenschaft und Religion könnte schlicht durch die Annahme entschärft werden, dass die Natur, wie sie wissenschaftlich untersucht wird, eben von einem göttlichen Wesen geschaffen wurde. Klar, woher soll man das wissen? Woher soll man wissen, dass es nicht so ist? Woher kommt sonst das Universum? Wieso gibt es überhaupt etwas? Was ist Zufall? Diese Fragen sind unentscheidbar.
Ich halte dieses Argument für falsch, da es unterstellt, dass unentscheidbare Aussagen prinzipiell gleichberechtigt sind. Aber davon kann man wohl kaum ausgehen. Beispielsweise ist die Widerspruchsfreiheit der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre unentscheidbar. Da aber seit fast 100 Jahren kein Widerspruch aufgetaucht ist, erscheint es sinnvoll, anzunehmen, dass sie widerspruchsfrei ist. Im Gegensatz dazu sehe ich nichts, was dafür spricht, von der Existenz eines Gottes auszugehen, dafür aber viele Gründe gegen die Existenz von Gott, besonders wenn man die Bibel als Grundlage nimmt. Vielleicht sehen sie das ja anders, aber ich halte Unentscheidbarkeit und die prinzipiellen Grenzen der Wissenschaft nicht für eine angemessene Rechtfertigung dafür einfach willkürlich irgendwas zu erfinden. Das gilt besonders dann, wenn dies konkrete politische Folgen hat. Ihr Spruch "Leben wir ein gutes Leben" wirkt da schon ziemlich realitätsfern. Vielleicht hätte es den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt schon viel früher geben können, wenn es schon früher viel mehr Leute gegeben hätte, die aktiv Widerstand gegen Religionen geleistet hätten.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (26.04.2021 14:03).