Lieber Herr Schleim, danke für Ihre Rückmeldung, jetzt will ich Ihnen aber auch antworten.
Es ist ja die Frage nach der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft gestellt. Wenn Religion nur als Frage einer Letztbegründung gestellt wird, dann sind sie insofern vereinbar, dass Wissenschaft nichts über letzte Gründe wissen kann und letzte Gründe nicht die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen widerlegen. Über Letztbegründungen kann man sich nicht wissenschaftlich streiten.
Allerdings haben Religionen, wir wir sie kennen, Dogmen neben der Letztbegründung (oder eine Letztbegründung neben den Dogmen) - und Wissenschaft muss nicht in als System verfasst sein, sodass eine Letztbegründung strukturell durchaus entfallen kann.
Darum wird in der Dekonstruktion auch von "Strukturen", "Konzepten" und "Ökonomien" gesprochen/geschrieben. Als Methode aus der Literaturwissenschaft sind vor ihr alle Texte Literatur, auch physikalische oder biologische Abhandlungen. Wenn wissenschaftliche Texte einer dekonstruktiven "Literaturkritik" unterzogen werden, werden ihre zum großen Teil unreflektierten Vorannahmen sichtbar. So wird die Dekonstruktion zur Ideologiekritik.
Wissenschaftssprache / die Sprache von Wissenschaftler:innen enthält immer noch sehr viele metaphysische Bezüge, die sich mit der kulturellen und religiösen Metaphysik decken. Dadurch ist es wenig verwunderlich, dass die meisten Wissenschaftler:innen sagen, dass ihre Arbeit mit ihrem Glauben vereinbar sei.
Physiker:innen sehen in der Mathematik oft die Schrift Gottes, wie Biolog:innen die Schrift des Lebens in der DNA sehen. Die Schönheit sei ein Anzeichen für die Wahrheit einer Theorie, wird immer wieder in der Physik behauptet. Wenn so viele Physiker:innen an Theorien arbeiten, weil sie diese schön finden und dann stellen sich die meisten von ihnen als falsch heraus, kann das so nicht stimmen. Schönheit liegt nicht in einer bloßen Form, es sei denn, die Form allgemein sei schön. Dann wären aber alle Formen schön und jede Theorie wäre schön, weil sie formal ist. Die Tatsache, dass manche Physiker:innen die eine und andere Physiker:innen andere Theorien schön finden, ist innerhalb der Physik nicht zu erklären.
Bei der Physik mag das zunächst einmal nur zu einer Vergeudung von Zeit und Arbeit auf der Suche nach schönen Theorien führen, bei der Biologie wird es da viel kritischer:
DNA, die "Schrift" des Lebens, wird "kopiert" und dabei entstehen "Fehler". Trotzdem wird vom "programmierten Zelltod" gesprochen und der Bug der Natur verwandelt sich in eine eingeschriebene Absicht. Der Schöpfer hat sich also etwas dabei gedacht, als er uns fehlerhaft machte.
Die Organmedizin konstruiert "Organe" mit Funktionen (keine bloßen Zellverbände mit Effekten) und behandelt Abweichungen von der Funktionalität als "Krankheit". Die Menschen als Maschinen zu beschreiben, ist eine anschauliche Vereinfachung, allerdings bekommen die Menschmaschinen, die nicht so funktionieren, wie vorgeschrieben, ihre Abweichung von der Norm auch in vielerlei Weisen sozial zu spüren. Das funktionalistische Dogma der Zweigeschlechtlichkeit war lange Zeit leitend und hat sich als wissenschaftlich unhaltbar herausgestellt. Trotzdem gibt es immer noch BiologInnen, die das vertreten. Alle, die weder XY- noch XX-Chromosomen haben, werden als Ausschuss der Natur behandelt.
Ich selbst habe (als Lunge) ein Asthma und (als Haut) eine Neurodermitis. Das macht mich anders als Menschen mit einer Lunge und einer Haut. Mit bestimmten Arzneien kann ich länger und besser leben - aber macht mich das "krank"? Sogenannte Gesunde können doch auch durch bestimmte Substanzen Arzneien und Nahrungsergängungsmittel länger und besser leben.
Nietzsche hat Stimmen gehört und verwahrte sich gegen ein Therapie. Man solle ihm seine Krankheit lassen und noch mehr: er wünschte den "Gesunden" auch eine Krankheit, an der sie gesunden mögen. Was mich zu Humanwissenschaften bringt, zu Psychologie, Erziehungswissenschaft, Soziologie... Da ist es die Einheit des Subjektes, der Seele, die auf den Schöpfergott verweist, wenn sie nicht als Kulturelles vielursächlich erklärt und kontextualisiert wird.
Die Einheit des Subjektes wird nicht nur in konstruktivistischen Lerntheorien unterstellt, derweil müsste doch Thema sein, wie Heranwachsende es schaffen, ihre Kognition soweit zu vereinheitlichen, dass sie zu einer Person werden, die sich alle kognitiven Vorgänge selbst zuschreibt. In vielen Kulturen wird es Schaman:innen zugeschrieben, Geister und Götter in sich aufnehmen zu können und sie brauchen dafür in ihrem gesellschaftlichen Kontext keine Therapie. Warum schafft es unsere Gesellschaft so wenig, Menschen, bei denen die Kognition nicht auf eine sich nur langsam verändernde Selbstidentifizierung hin vereinheitlichend verläuft, erfolgreich zu integrieren und ihnen Kulturtechniken anzubieten, mit deren Hilfe sie ein glückliches Leben führen können?
Eine Freundin von mir hört Stimmen und ist in einer Selbsthilfegruppe und nicht in Behandlung. Das hilft ihr mehr, als zu versuchen, etwas zu werden, was sie nicht ist.
Was nicht heißt, dass ich pauschal gegen Behandlungen bin, Ich habe zwei Freunde, die sind wegen Schizophrenie medikamentös eingestellt. Sie haben daran gelitten und ihr Umfeld oft auch. Aber vielleicht wäre eine Medikation unnötig, wenn sie nicht eine Ausgrenzung erfahren hätten, als ihre Symptome anfingen, sondern eine kulturelle Anleitung, wie sie ihre kognitiven Prozesse in Bahnen lenken können, die ihnen ein Leben damit ermöglichen, sowie gesellschaftliche Möglichkeiten, ihre verschiedenen Identitäten schadlos auszuleben.
Andererseits verstellt die Einheit des Subjektes den Blick auf Verdrängungen bis hin zu Spaltungen des Körpers (oder besser des Leibes). Bei Freud ist das noch metaphysisch aufgeladen, aber die Psychoanalyse hat sich seitdem gewandelt. Klaus Theweleit z.B. hat zu gewalttätigen männlichen "Fragmentkörpern" geschrieben, u.a. in "Männerphantasien". Bei Herbert Marcuse und anderen Autor:innen der Kritischen Theorie wird die Psychoanalyse mit dem historischen Materialismus verbunden und auch das hat seine Berechtigung.
Kritisch wird es im Materialismus dann, wenn unterstellt wird, den Letztgrund für das Handeln von Menschen zu kennen. Da wird er also idealistisch. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass uns noch nicht einmal selbst die Motive unseres eigenen Handelns vollständig transparent machen können. Oft berichtigen wir uns selbst und was eben noch Sinn gemacht hat, verstehen wir schon kurz darauf nicht mehr richtig. Das ist bei Materialist:Innen nicht anders als bei Idealist:innen.
Das schriftstellerische Schreiben - und jetzt will ich zur Dekonstruktion zurückkommen und abschließen - und der Neologismus, also die Vorstellungskraft, lässt sich nicht in ein System von Zeichen einschreiben. Ein solches "Buch der Bücher" müsste alle Bücher schon enthalten (und die nicht-geschriebenen Bücher nicht). Deswegen muss der reduktive Materialismus scheitern. Der nicht-reduktive Materialismus muss, solange er an der durch Schrift repräsentierbaren Substanz festhält und diese nicht als Substrat zum kulturellen Konzept macht, mit dem Körper-Geist-Dualismus leben, den er doch vermeiden wollte. Nur eben nicht auf Ebene des Seins, sondern des Sinns. Es gibt dann zwei Sinn-Welten, deren Sinn mit unterschiedlichen Sprachen repräsentiert wird.
Demgegenüber betont die Dekonstruktion, dass sich (ihr) Sinn nicht in durch den Blick auf ein "Ganzes", eine "Einheit" oder eine "Funktion" ergibt, sondern bei der Lektüre eines Volumens an Literatur, einer Lektüre die notwendig Dauer hat. Der Sinn ist nicht vor dem Schreiben, auch nicht vor der Lektüre (das ist idealistisch) und er lässt sich auch nicht (oder nur mit Zwang) im Nachhinein formelhaft hineininterpretieren. Sinn ergibt sich beim Schreiben bzw. Lesen (oder ergibt sich nicht) und vieles macht beim zweiten Mal Lesen einen anderen Sinn als beim ersten Mal.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (02.05.2021 01:17).