Für mich steht vielmehr die Frage im Mittelpunkt, wie Religion Wissenschaft und umgekehrt beeinflussen, befruchten, rechtfertigen kann. Religion als geistige Gemeinschaft von Menschen einer bestimmten Glaubenshaltung steht in einem dialektischen Verhältnis zu allen Lebensbereichen, beeinflußt diese nach ihren jeweiligen Prämissen. Der Atheist behauptet dagegen, da er nicht zu glauben meint, sondern nur weiß, daß es Gott und so gesehen irgendetwas Höheres, Überpersönliches nicht gibt, daß die Existenz Gottes sich nicht beweisen läßt etc. Woraus sich Ethik in dem Falle dem Menschen erschließt, das ist unter der atheistischen Voraussetzung somit auch nicht erklärbar und ist unnötig, wird sogar abgelehnt und mitunter in den zu überwindenden Bereich Herr-Knechts-Verhältnis verortet und abgewiesen. Robert Kurz sagte z. B.: "Ethik ist so ziemlich das letzte, womit sich kritische Theorie beschäftigen sollte." (Interview mit der brasilianischen Zeitschrift „IHU On-Line“)
Ich stehe auf dem Standpunkt einer existentiellen Dialektik des Göttlichen und Menschlichen, d. h. auf dem christologischen Standpunkt. Hier findet das Transzendente seine immanente Verwirklichung: Der Mensch als Wesen der Freiheit durchleidet im widerständigen Durchgang durch diese Welt eine Läuterung seiner Freiheit hin zum Göttlichen in ihm selbst als das wahrhaft Menschliche, als die fortlaufende Verwirklichung der Idee des Menschen – Gottes lebendig-dynamische, im Menschen wirkende und rufende Idee der Gottebenbildlichkeit. Der Mensch muß seine Freiheit zum Wahrhaftigen erheben. Die verwirklichte innere Wahrheit ist kein Selbstzweck, sondern die Bedingung für des Menschen Fähigkeit, im Sinne dieser Wahrheit in die Welt hinein auszustrahlen, diese im Sinne des wahrhaften Reiches Gottes zu vermenschlichen, die Welt von der überbordenden Lüge zu befreien, in der sie sich befindet. Vor diese Aufgabe wird die Menschheit in dieser Welt und so lange sie existiert immer gestellt sein.
Aber da der Mensch frei ist, kann er eine andere Wahl treffen und sich lossagen vom Göttlichen, kann sich in einem humanistischen Eigenwillen (Dostojewskij) einschließen mit der Folge, daß er seiner Freiheit und seiner Menschlichkeit verlustig geht, da sie ihren einzig echten Bezug verlieren. Reine, eigenwillige, d. h. vollkommen haltlose Freiheit gleitet ab ins Dämonische, Zerstörerische. Der Mensch im frei gewählten Eigenwillen wird zum Tyrannen seiner selbst, da er Höheres nicht gewillt ist, frei anzuerkennen und zu verwirklichen. So bewegt sich der Mensch auf einen irrationalen Abgrund der Unfreiheit zu. Unsere gegenwärtige, im Niedergang sich befindende Welt ist zu einem Großteil der eudämonistische, materialistische, d. h. verirrte Ausdruck der verlogenen, illusionären, phantasmagorischen Entgleisungen des Menschen und seines unbändigen Strebens nach weltlicher Macht.
Alles, somit auch die Wissenschaft, sollte in einem wahren Bezug zu einer geläuterten Religion der Freiheit und der Menschlichkeit stehen. Nicht alles wäre demnach erlaubt. Letztlich kann die Wahrheit in all ihren Aspekten nur in uns und als Menschen höchste, geistig erfahrbare Realität werden. Wir Menschen müssen wahr werden und sein und dies im Leben schöpferisch realisieren – persönlich und unabdingbar im gemeinschaftlichen Bezug zu allem.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (26.04.2021 16:58).