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  • observer3

mehr als 1000 Beiträge seit 31.12.2005

Religion und Machtausübung / Wissenschaft, Erkenntnis und Spiritualität.

Ein wesentlicher Aspekt von Religion wird nicht genannt.

In fast allen menschlichen Gesellschaften, schon vor Tausenden von Jahren war Religion meist auch ein sehr effektives Instrument der Machtausübung über Menschen.
Es gab häufig eine Kaste von Priestern und einen hohen Priester, der in manchen Kulturen sogar als Gott galt und gleichzeitig weltlicher Herrscher war (z.B. der Pharao in Ägypten).

Im Christentum war dann zwar kein lebender Mensch mehr gleichzeitig Gott, es gab allerdings noch den Stellvertreter Gottes (Papst), der den größten Teil der christlichen Geschichte selbst nicht unerhebliche weltliche Macht ausübte und mit dem Kaiser paktierend ein gemeinsames Herrschafts- und Unterdrückungssystem betrieb.

Inhalt der christlichen Religion war und ist ein Glaubensdogma. Wer dem in früheren Zeiten öffentlich widersprach, der wurde von den Priestern zu Tode gefoltert, z.B. als Hexe(r) verbrannt. Solche grausamen Rituale wurden zudem genutzt, den Menschen einzureden, dass sie, wenn sie sich nicht der Religion und deren Priestern unterwarfen, sie nach dem Tod in alle Ewigkeit solche Qualen erleiden müssten.
Das muss mal klar gesagt werden, damit man weiß, womit man es bei Religion (speziell der christlichen) zu tun hat(te).
Das Glaubensdogma und die verlangte Einhaltung religiöser Regeln wurden schon durch die Erziehung in frühester Kindheit verinnerlicht. Eine solche im Glauben geeinte Gesellschaft war für ihre Führer leicht lenkbar und auch zu größten eigenen Verlusten bereit.

Das Glaubensdogma der (christlichen) Religion diente gleichzeitig zumindest in früheren Zeiten auch der Welterklärung mit einem Anspruch auf Ausschließlichkeit. Die Organisation der Religion, die Kirche, hatte die Deutungshoheit für die Erklärung aller Aspekte der Welt, bei Strafe des Todes für Zweifler.
Hinter dieser drakonischen Strafe steckte wohl die Angst der Kirchen-Oberen, ihre Macht zu verlieren, wenn in größerem Umfang Zweifel aufkamen.
Die Welterklärungs-Geschichte der christlichen Religion war nie auf ein Begreifen oder Verstehen der Welt ausgerichtet, sondern forderte bedingungslosen Glauben.

Die Wissenschaft (damit meine ich im engeren Sinne die Naturwissenschaften, die im Englischen „Sciences“ genannt werden) hatten im Christentum einen schweren und verlustreichen Kampf gegen die Kriche zu führen und das, obwohl sie bereits in der Antike bei den Griechen eine frühe Blüte erlebt hatten. Wissenschaftler wie Giordano Bruno wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Sieht man von dieser wichtigen Machtfunktion von Religion ab, so bleiben noch ihre Welterklärungsgeschichten, die sich aber mit den wachsenden Erfolgen der Naturwissenschaften immer weiter in die noch nicht erklärbaren Phänomene der Welt zurückziehen mussten.
Gott, der zunächst als personifizierte allmächtige Vaterfigur verstanden wurde, hat sich auch bei den „Gläubigen“ inzwischen immer mehr zu einem abstrakten Prinzip entwickelt, schließlich wurde er ja weder in der Erdumlaufbahn noch auf dem Mond gefunden. Dennoch bietet die Vorstellung eines personifizierten Gottes wohl vielen Menschen eine tröstliche Hilfe, vor allem wenn mit fortschreitendem Alter zunächst die eigenen Eltern sterben und dann irgendwann der eigene Tod Ängste auslösend vor der Tür steht.

Was die soziale Funktion von Religion angeht, die es zweifellos ebenso wie die oben genannten negativen Aspekte auch gibt, so denke ich persönlich, dass ein auf Vernunft basierender Humanismus gleiche positive Wirkung haben kann, wie z.B. die christliche Bergpredigt. Ich denke nicht, dass Religion gebraucht wird. Im Gegenteil, sie ließ sich immer wieder, zuletzt z.B. im 2. Weltkrieg, für schwerste Verbrechen missbrauchen.

Naturwissenschaften bieten einen völlig anderen Zugang zur Welt. Sie lehren, wenn sie richtig ausgeübt werden, Ehrfurcht vor dem Existierenden. Das ist ihre spirituelle Dimension.

Einschub zum Thema Begrifflichkeiten:
Ein ganz wesentliches Merkmal der Naturwissenschaften ist ihre eindeutige Begriffsdefinition. Jede Größe (z.B. Geschwindigkeit) hat für alle Naturwissenschaftler die gleiche Definition. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für ihren Erfolg. Das ist in den Geisteswissenschaften anders, wo manches mal jede Denkschule ihre eigenen Begriffsdefinitionen hat („Freiheit, die ich meine“). Die geisteswissenschaftlichen Begriffe sind zugegebenermaßen komplexer und bei weitem nicht so klar wie die naturwissenschaftlichen Begriffe für deren Definition oft eine einzige Gleichung ausreicht.

Was die Naturwissenschaften angeht, so brauchen diese m.E. keine Religion, auch keinen Dialog mit einer solchen. Sie liefern eine auf experimentellen Fakten basierende Weltbeschreibung, die von eigener atemberaubender Komplexität und Faszination ist und mit der keine Religion mithalten kann.
Die naturwissenschaftliche „Schöpfungsgeschichte“ mit ihrer Beschreibung der Entstehung des Weltalls mit seinen Milliarden von Galaxien, den ersten Generationen von Sternen, in welchen zunächst die Elemente geschaffen wurden, aus denen wir uns zusammensetzen, schließlich die Entstehung unserer Sonne, der Planeten und die Entstehung des Lebens auf der Erde, … all das ist in seiner Komplexität, seinen Dimensionen von Raum und Zeit und seiner unfassbaren Größe derart fantastisch, dass es weit über alles hinausgeht, was menschliche Fantasie sich zuvor ausgedacht hatte.

Trotz aller naturwissenschaftlichen Erfolge, dem gewachsenen Verständnis der Welt und den zahllosen Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, werden die Dinge zunehmend rätselhafter, je weiter man den Phänomenen auf den Grund und in die Tiefe geht. Die Quantenmechanik mit ihren Unbestimmtheiten und Verschränkungen widerspricht dem gesunden Menschenverstand unserer Erfahrungswelt, wiewohl man dennoch sehr gut mit ihr rechnen kann. Der Dualismus Welle / Teilchen, Teilchen als „Anregungen von Feldern“, … das alles zeigt uns deutlich an, dass selbst die Begriffe der Naturwissenschaften und die erforschten Zusammenhänge nur Beschreibungen von etwas sind, was wir im Grunde nicht vollständig verstehen.
Und da ist dem Autor voll Recht zu geben: Unsere Beschreibung der beobachtbaren Phänomene mit unseren Begriffen und deren Zusammenhänge sind eben nur Beschreibungen und nicht identisch mit der existierenden Realität.

Wer Ehrfurcht und Staunen vor dem Seienden empfinden will, der braucht keine Religion. Der ist bei den Naturwissenschaften sehr gut aufgehoben. Das ist die nicht religiöse, aber spirituelle Dimension der Naturwissenschaften. Und es war/ist auch die persönliche Antriebskraft für viele Naturwissenschaftler. Ich sage dies, wohl wissend, dass es ein altmodischer Ansatz ist, da heute selten noch das Streben nach neuer Erkenntnis, sondern meist kurzfristig profitable Verwertbarkeit Antrieb für die Forschung ist.

Und damit komme ich zu einem m.E. sehr wichtigen, auch philosophischen Aspekt. Wir versuchen die Welt/Natur um uns herum nicht nur als Naturwissenschaftler mit unserem Verstand zu erfassen, sondern wir erleben sie auch direkt, teils mit sehr starken Gefühlen. Jeder hat dies schon einmal erlebt, der mal in einem kleinen Boot den Urgewalten des Ozeans ausgesetzt war, sich einige Zeit fernab in die unzivilisierte Wildnis begeben hat oder auf hohen einsamen Berggipfeln stand und von der Natur völlig überwältigt wurde.

Dieses unmittelbare Gefühl, wie sehr man einerseits ausgeliefert, aber gleichzeitig auch Teil dieser gewaltigen Natur ist, … Orte, wo fernab der Zivilisation jede Scheckkarte vollkommen nutz- und sinnlos ist, zeigen uns, daß in der Natur andere Götter herrschen als Mammon. Solche Erlebnisse haben eine spirituelle Dimension und sind m.E. Ursprung von Naturreligionen, die nicht auf Machtausübung angelegt sind, sondern das Überleben lehren in Respekt vor der Natur. Solche Erlebnisse lehren uns Demut vor dem Existierenden und uns mental und gefühlsmäßig einzuordnen als Teil eines Gesamtsystems, das alles erhält und auch unser kleines Überleben sichert. Und letztlich lehren solche Erlebnisse uns auch Vertrauen und Akzeptanz der Erkenntnis, dass wir alle einmal zurückkehren werden in diese gewaltige Natur, aus der wir hervorgegangen sind und deren Teil wir immer waren.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (03.04.2021 01:36).

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