Ansicht umschalten
Avatar von Irwisch
  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Wahrnehmung ist, etwas für wahr zu halten

Der für mich zentrale Satz am Schluß des ersten Teils der angekündigten Serie lautet:

Wir können uns, wenn überhaupt, nur von unserem Standpunkt aus und nicht jenseits von uns selbst verstehen.

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, daß Menschen Subjekte sind, deren Verstand sich von dem eines jeden anderen Menschen unterscheidet. Es kann daher keine objektive Wahrnehmung geben, auch wenn zahllose Menschen in ihren Reden und Schriften behaupten, daß eine Sache objektiv gesehen so oder so sei oder zu sein habe. Mit dem Attribut objektiv wird also im Grunde behauptet, keinen subjektiven Eindruck zu vermitteln, sondern eine Sache exakt so zu beschreiben, als wäre man sozusagen ein allsehendes Auge, das alle nur denkbaren Aspekte, Zusammenhänge und Hintergründe eines Phänomens erkannt hat.

Doch wer sollte so etwas können? Ein Mensch mit Sicherheit nicht. Daher verweisen Behaupter objektiver Wahrheiten nicht selten auf irgendwelche göttlichen, dämonischen oder sonstwie überirdischen Wesenheiten oder auf Propheten oder Seher und Weissager. Im Falle irdischer Mächte wie Industriebossen und Regierungen kann man sich der anerzogenen Obrigkeitshörigkeit (Gehorsams- und Unterwerfungsbereitschaft) bedienen, die für weitgehende Kritiklosigkeit bei den Rezipienten objektiver Wahrheiten sorgt.

Ganz richtig bzw. meiner Kenntnis nach zutreffend fand ich auch den Hinweis auf die Verstandeskategorien:

Im Übrigen ist aber selbst die direkte Erfahrung leider kein Garant dafür, dass die Welt auch grundlegend und wirklich so ist; denn schließlich können wir ja nur das erfahren, was für uns erfahrbar ist, das heißt, wofür wir die nötigen Erkenntnismittel haben. Schon Immanuel Kant (1724-1804) nannte hier Kategorien unseres Verstandes – wie Einheit und Vielheit oder Ursache und Wirkung –, anhand derer wir die Welt erkennen. Und ich wüsste nicht, wie man an seiner Einsicht vorbeikäme, auch wenn ich die Kategorien vielleicht anders nennen würde.

Das sehe ich auch so: Wer nur über ein quasi rudimentäres Kategoriensystem verfügt, tut sich schwer beim Einsortieren der zahllosen Phänomene, die ihm tagtäglich begegnen. Als weitgehend ungebildeter bzw. unbelesener Mensch, der abgesehen von Romanen oder vom einen oder anderen Ratgeberbuch kaum Sachbücher gelesen hat, weiß man nicht besonders viel darüber, was in der Welt so alles existiert; man weiß kaum etwas über Hintergründe und versteht bzw. definiert wenig bekannte Begriffe häufig falsch bzw. unzutreffend. So wird z.B. das Wort sozial von vielen als der Gesellschaft und den Menschen darin zugute kommend interpretiert (sozial ist, was Arbeit schafft), wo das Wort doch eigentlich nur ein Fremdwort für das deutsche Wort gesellschaftlich ist. Auch mit dem Begriff der Depression, dem Fremdwort für Bedrückung, Niedergeschlagenheit, anhaltende Traurigkeit etc. wird häufig Schindluder getrieben, wie ich bereits mehrfach in Beiträgen zu erläutern suchte.

Was mich am Artikel ein wenig befremdete, ist die Darstellung von Materie und Übernatürlichem als Antagonismus: Phänomene seien damit entweder das eine oder das andere, so wie z.B. trocken und naß oder heiß und kalt, groß und klein usw. Ich sehe das ein wenig anders: Mit Hilfe unseres Verstandes bilden wir Modelle dessen, was wir auf welche Weise auch immer erfahren, erleben, lesen, hören, sehen usw. Wir entwickeln eigene oder übernehmen in der Gesellschaft bestehende Kategorien und Unterkategorien, die man sich einfach mal als Schubladen vorstellen kann, in denen sich weitere Schubladensysteme befinden. Je älter wir werden, desto komplexer wird unser Kategoriensystem und desto bunter und ausgefüllter wird damit auch unsere innere Landkarte, nach der wir uns richten (oder auch nicht richten, weil gewisse Bedürfnisse dagegen stehen, aber das ist ein anderes Thema).

Meiner Auffassung und Kenntnis nach unterscheiden sich Materie und Energie (etwas anderes Grundlegendes gibt es nicht) nicht in ihrem Wesen. Die Unterscheidung ist eine menschengemachte, ist der Tatsache geschuldet, daß wir mit unserer materiellen Energie nicht ohne weiteres in andere materielle Energiesysteme eindringen können bzw. beim Eindringen einen Widerstand spüren. Wenn Sie versuchen, mit der Hand in eine Mauer zu fassen, wird Ihnen das nicht gelingen, und je nachdem, wieviel Energie Sie dabei aufwenden, wird das ein schmerzhafter Vorgang sein. Bei flüssigem Wasser verhält sich das schon etwas anders, wir können mit der Hand in Wasser greifen (gefrorenes Wasser verhält sich wie die erwähnte Mauer) und spüren doch, daß da was ist, was unsere Bewegung hemmt. Luft dagegen nehmen wir taktil nur wahr, wenn sich die Luft bzw. der menschliche Körper bewegt. Wir können die Luft nicht sehen, doch wir spüren eine Kühlung durch die Luftbewegung, einen Hauch, einen Wind.

Ganz anders ist das bei dem, was wir im Gegensatz zu Materie als Energie bezeichnen. Energie z.B., wie sie von einem einfachen Magneten ausgeht, können wir nicht direkt wahrnehmen. Sie entsteht durch die Ausrichtung von Atomen z.B. in einem Stück Eisen. Auch die Sonnenstrahlung können wir nicht direkt identifizieren; die Wärme, die von der Sonne auf unserer Haut spürbar erscheint, könnte auch von einem warmen Wind oder einer warmen Umgebung z.B. in einem geheizten Zimmer ausgehen.

Wärme ist so ein Phänomen, das von vielen nicht wirklich verstanden zu werden scheint. Man glaubt gemeinhin, Wärme sei etwas, das von einem wärmeren Gegenstand zu einem kälteren fließe, dabei besteht das Phänomen Wärme eigentlich nur darin, daß der Gegenstand, von dem sie ausgeht, einen zur menschlichen Haut unterschiedlichen Erregungszustand aufweist. Die Atome in einem erwärmten Gegenstand schwingen schneller als die in einem nicht erwärmten, sie besitzen mehr Energie. Das Verhältnis ist jedoch relativ, und die menschliche Wärmeempfindung erst recht. Letzteres können Sie ganz leicht feststellen, indem Sie drei Gefäße, die groß genug sind, so daß Sie beide Hände hineintauchen können, mit Wasser füllen, das drei verschiedene Temperaturen hat: Das linke Gefäß füllen Sie mit heißem Wasser, das mittlere mit lauwarmen und das rechte Gefäß mit kaltem Wasser. Nun tauchen Sie Ihre beiden Hände in die jeweils äußeren Gefäße und warten eine Weile, bis Ihre Hände sich an die Temperatur gewöhnt haben. Tauchen Sie danach beide Hände in das mittlere Gefäß mit lauwarmem Wasser, nehmen Ihre Hände die doch eigentlich eindeutige Temperatur unterschiedlich wahr: für Ihre linke Hand ist das lauwarme Wasser kalt und für Ihre rechte Hand warm.

Ebenso verhält es sich mit der Unterscheidung zwischen Materie und Energie. Wie Einstein mit seiner berühmten Formel beschreibt, ist Materie gleich Energie: E=mc².

Zunächst einmal: (relativistische) Masse und Energie sind bei Einstein zwei unterschiedliche Beschreibungsformen ein und derselben Größe. Hat ein System die Energie E, dann besitzt es automatisch die relativistische Masse m=E/c²; hat ein System die Masse m, dann muss man ihm eine Energie E=mc² zuschreiben. Wer die Masse eines Systems festlegt, legt automatisch auch seine Energie fest; wer seine Energie kennt, kennt auch seine Masse. Von einer "Umwandlung" zwischen diesen beiden Größen zu reden, ist unsinnig – wo die eine ist, ist automatisch auch die andere.

https://tinyurl.com/3rketcjs

Die Unterscheidung zwischen Materie und Energie ist natürlich keine grundsätzlich willkürliche, weil sie dem menschlichen Wahrnehmungsapparat entspricht. Stellen wir uns jedoch ein imaginäres Wesen vor, dessen Körper, Organismus oder System ganz anders zusammengesetzt ist als beim Menschen, sozusagen anders schwingt, würde dieses Wesen die Grenze zwischen Materie und Energie womöglich ganz woanders setzen oder vielleicht sogar alles als Energie wahrnehmen.

Kein einziges Subjekt sieht ein Ding, sieht die Natur so, wie sie ist, sondern immer nur so, wie das Subjekt ist. Und da wir Menschen alle mehr oder weniger unterschiedliche Subjekte sind, entwickeln wir auch unterschiedliche Modelle dessen, was wir dort draußen außerhalb unserer Haut als Wirklichkeit ansehen, vermuten – oder behaupten. Und das ist auch gut so, denn unsere Modelle im Kopf sollen ja uns zur Orientierung im alltäglichen Leben dienen und nicht, wie mancher vielleicht glaubt, der vollständigen Beschreibung des Universums in all seinen Aspekten und Zusammenhängen. Um im Alltag funktionieren zu können, muß man eigentlich nichts von all dem wissen, was ich hier geschrieben habe. Jedes Leben, jedes Lebewesen ist einmalig, kommt in Zeit und Raum nur einmal vor, ist mit keinem anderen Lebewesen identisch. Genau deshalb benötigt jedes einzelne Lebewesen auch seine ganz subjektive Weltsicht. Mit Ihrer Weltsicht, werter Leser, könnte ich verstandesgemäß vielleicht etwas anfangen – sie analysieren oder mit der meinen oder der anderer vergleichen oder mir gewisse Teile herausnehmen –, doch sie wäre als Ganzes für mein einzigartiges Leben unbrauchbar (mal ganz davon abgesehen, daß viele heute eine Weltsicht bzw. innere Landkarte zu entwickeln scheinen, die ihnen an zentralen Punkten ihres Lebens mehr im Wege steht als daß sie ihnen weiterhilft).

Dennoch vertrete ich die Überzeugung, daß man wissen sollte, was eine von wem auch immer behauptete Realität in Wirklichkeit ist, nämlich das Modell dessen, der eine Realität behauptet. Man kann solchen Behauptungen zustimmen oder sie ablehnen, je nachdem, wie man selbst das in der Behauptung erwähnte Phänomen sieht, d.h. je nachdem, wie das eigene Modell, so überhaupt eines existiert, entwickelt und gestaltet wurde. Als Beispiel für die Existenz objektiver Erkenntnis werden häufig weitgehend unstrittige Phänome hergenommen: Ein Stuhl, ein Tisch bleiben ein Stuhl oder ein Tisch, egal wer diese Gegenstände betrachtet. Doch auch hier kann man, wenn man genauer hinsieht bzw. nachfragt, unterschiedliche Wahrnehmungen feststellen: Kein Mensch ist in der Lage, sämtliche existierenden Aspekte eines solchen Gegenstandes in sein Modell aufzunehmen. Der eine schaut vielleicht nur flüchtig hin und erkennt die Kategorie Tisch, ohne zu realisieren, daß hier ein einzigartiger Tisch steht, der mit keinem anderen Tisch identisch ist. Ein anderer schaut genauer hin, beobachtet die Maserung der Tischfläche, die gedrechselten Tischbeine und bewundert den Glanz der lackierten Oberfläche. Die Holzwürmer im Inneren des Tisches entdeckt womöglich nur ein Spezialist, der auf kleine Löcher im Holz achtet, und wieder ein anderer nimmt einen bestimmten Geruch war, der von dem Tisch ausgeht, oder er tastet mit den Händen die Oberflächen ab.

Wenn nun all diese Tischbeobachter beginnen, sich über ihre Wahrnehmungen auszutauschen, geraten sie womöglich in Streit darüber, was sie gesehen, gerochen oder gefühlt haben. Der eine wird vielleicht dem anderen vorhalten, seine Wahrnehmungen seien nicht relavant, schließlich sei ein Tisch ein Tisch und bleibe ein Tisch. Ein anderer wird vielleicht einwenden, daß man das Konzept Tisch überhaupt erst einmal kennen müsse, um dieses Gebilde als Tisch wahrzunehmen. Tatsächlich mag es Kulturen geben, vielleicht irgendwo im Dschungel des Amazonasgebiets, in denen das Konzept Tisch völlig unbekannt ist, weil man dort keine Tische kennt und hat.

Stellen wir uns solche Diskussionen in einem gesellschaftlichen Rahmen vor, wo derjenige mit der größeren Macht- und Einflußsphäre seine persönliche Sichtweise durchsetzen kann, indem er alle sanktioniert, die ihm widersprechen. Dann sind wir nicht mehr weit davon entfernt, Behauptungen einer objektiven Realität als ein Machtverhältnis zu erkennen. Um überzeugend zu wirken, wird Behauptungen einer objektiven Wirklichkeit gerne und häufig das Wort wissenschaftlich oder der Zusatz die Wissenschaft hat festgestellt beigefügt. Das wirkt bei wissenschaftlich unbedarften Menschen fast genau so wie bei religiösen Menschen der Zusatz der Papst hat gesagt oder in der Bibel steht ...

Eine objektive Realität ist nichts anderes als ein Ausdruck für Machtverhältnisse, die als solche noch unentdeckt sind. Wissenschaftliche Gesetze sind das Ergebnis von Verallgemeinerung durch Abstraktion Es gibt nur soviel Wissenschaft, wie es Gleichschaltung gibt. Diese Gleichschaltung besteht darin, daß im Abstraktionsverfahren alles weggelassen wird, was einer solchen Gleichschaltung entgegensteht, nämlich alle die Merkmale an einem Gegenstand, die ihn von einem anderen unterscheiden. Es zählt nur, was sie gemeinsam haben.

https://www.gleichsatz.de/

Objektivismus, der Glaube an eine objektiv wahrnehmbare Realität ist daher nichts anderes als eine Religion der Macht, ganz genau so, wie sich das auch mit den institutionalisierten Religionen verhält. Jede als objektiv dargestellte Beschreibung dient einem ganz speziellen Interesse. Unsere Interessen steuern unsere Wahrnehmungen. Vor allem unsere Wünsche und Bedürfnisse, ob sie nun elemantar oder ersatzweise existieren, bestimmen, was wir wie wahrnehmen, worauf wir unseren Fokus richten, wohin wir uns begeben bzw. wo wir lieber wegbleiben.

Wahrnehmung ist die subjektive Verwandlung eines sinnlichen Datums in einen bewußtseinsfähigen Gegenstand. Sie geschieht allermeist unbewußt, was zur Folge hat, daß die zugrundeliegende Intention – der Wille bzw. das Interesse – unbeachtet bleiben. Behauptungen, Phänomene objektiv wahrnehmen zu können, sind Grundlage aller Dogmatismen und Ideologien. Abstraktionen wie Menschheit, Pferdheit, Obst oder die Welt sind keine realen Gegenstände, sie existieren nicht wirklich, sondern nur als Kategorien in unseren Köpfen. Solche Abstraktionen bzw. Sammelnamen werden lediglich aus praktischen Gründen verwendet, haben in der Realität jedoch kein Gegenstück, auf das man zeigen könnte.

Kaum jemand macht sich deutlich, daß überall dort, wo von objektiver Erkenntnis oder absoluter Wahrheit die Rede ist, ein – illegitimer – Machtanspruch gerechtfertigt wird. Wer andere mit welchen Mitteln auch immer davon überzeugen kann, die eigenen, als objektiv ausgegebenen Wahrheiten zu übernehmen und anzuerkennen, der übt Macht über diese Menschen aus. Die Kriterien, nach denen Menschen einem anderen Menschen glauben, haben sehr viel mit Vertrauen und Kritiklosigkeit zu tun. So kann z.B. die Bundesregierung behaupten, wir würden über unsere Verhältnisse leben und müßten daher den Gürtel enger schnallen. Oder die Industriekapitäne können behaupten, die Produktionskosten seien zu hoch und man müsse nun schleunigst einen Niedriglohnsektor einführen, um global weiterhin konkurrenzfähig zu sein. Solche Behauptungen werden stets als objektiv und die damit verbundenen Forderungen als alternativlos dargestellt. Der ungebildete Bürger, der nichts über die oben dargestellen Zusammenhänge weiß und der Obrigkeit ebenso vertraut wie einst den eigenen Eltern, wird dabei über den Tisch gezogen.

Bewerten
- +
Ansicht umschalten