Insgesamt ein ausgewogener und vernünftiger, sowie speziell mit Blick auf die Fehler, die Birgit Gärtner in ihrem Text ja tatsächlich unterlaufen sind, auch kein ganz unzutreffender Artikel, der auch offen Schwächen in Damores Schriftstück benennt.
Hier ein paar Anmerkungen zu Punkten, bei denen ich im Artikel noch Schwächen – oder vielleicht auch Missverständnisse – sehe.
Zum Stand der Wissenschaft:
Neben den "vier Wissenschaftlern", die Partei für Damore ergriffen und an dessen "Manifest" (fast) nichts Falsches und nichts Sexistisches finden wollten, gibt es inzwischen einige Kommentare aus der Wissenschaft, die das anders sehen. Darunter sind auch von denjenigen Wissenschaftlern welche vertreten, auf deren Forschungsergebnisse sich Damore explizit berief (vgl. z.B. https://www.wired.com/story/the-pernicious-science-of-james-damores-google-memo), und die entscheidenden Teilen seiner Schlussfolgerungen widersprechen. Insofern er ausschließlich Hinweise auf diejenigen Teile der Wissenschaft gibt, aus denen Damore Zustimmung erhielt, erzeugt der Artikel ein etwas zu einseitiges Bild.
Zur "weißen Machomännerkultur":
Hier wirft der Artikel dem vorangegangenen von Birgit Gärtner vor, der kritisiere die "Kultur 'weißer Männer'", und "[d]iese Exemplare der Spezies homo sapiens erzeugten eine giftige Umgebung - eine sogenannte 'Toxic Masculinity' -, in der es Frauen besonders schwer hätten", versucht aber nicht mal zu zeigen, dass oder warum es das nicht gäbe. Überdeutliche Beispiele für diese toxic masculinity finden sich derweil schon live wieder in diesem Forum, wie seit Jahren eigentlich in jedem Telepolisforum zu Artikeln, die auch nur im Entferntesten was mit Frauen zu tun haben. Man stelle sich eine Arbeitsstätte vor, in der eine große Mehrheit von Männern solche Meinungen verträte und so redete. Welche Frau würde da ernsthaft arbeiten wollen?
Dann fragt der Artikel "nebenbei": "'[W]eiß' und 'männlich', sind das keine biologischen beziehungsweise ethnischen Kategorien?" Der Frage muss ein Irrtum zugrundeliegen oder ein Verständnisproblem. Wie sollen auf biologischen und ethnischen Kategorien basierende Diskriminierung, also Sexismus und Rassismus, anders beschrieben werden als mithilfe der daran beteiligten Kategorien? Wenn Sexismus stattfindet, ist es natürlich immer ein Geschlecht, das ein anderes diskriminiert, und wenn Rassismus stattfindet, ist es natürlich immer eine sich als Ethnie oder "Rasse" vorkommende Gruppe von Individuen, die andere diskriminiert. Die Nennung der Kategorien 'weiß' und 'männlich' erfolgt ja in einem solchen Kontext. Und, das ist vielleicht ein weiteres Missverständnis, die Begriffe sind ohnehin vom konkreten Geschlecht und von der konkreten Ethnizität abstrahiert, indem damit weder alle weißen Männer gemeint sind, noch ausgeschlossen wird, dass auch Frauen oder Nicht-Weiße einen Anteil an dem Phänomen haben könnten, das den Kontext bildet.
Ein ähnlich gelagerter Punkt ist der, an dem der Artikel auf Gärtners "Verweis auf Burschenschaften, Macho-Clubs und 'Old-Boys-Networks'" zu sprechen kommt, und fragt: "Wie viele Männer müssten denn in solchen Gruppierungen Mitglied sein, um korrekterweise von einer "männlichen Kultur" zu sprechen? Und wie viele sind es tatsächlich? Geht es hier nicht nur um eine Minderheit von Männern, die sich in dieser Form organisiert?" Auch da gab es keine Behauptung, dass alle Männer in sowas organisiert wären. Es geht dabei aber auch nicht nur um organisierte Männernetzwerke. Es geht dabei um eine Kultur, in der Männer, besonders in für gutbezahlte Stellungen in der Wirtschaft einschlägigen Berufszweigen, oft schon während des Studiums über in ihrer Struktur mitunter Generationen weit zurückreichende Kontakte männlicher Bekannter oder Verwandter klarmachen können, bei welchem Unternehmen sie unterkommen werden. Auch an den dort jeweils entscheidungsbeeinflussenden und entscheidungsbefugten Stellen sitzen nun mal tendenziell bevorzugt Männer. Dafür muss man in keinem Klub Mitglied sein (obwohl das, genau wie die Burschenschaft, natürlich nochmal umso mehr hilft). Dazu passt übrigens auch, dass kürzlich bekannt wurde, dass ein Drittel aller Stellen (und da wurde noch nicht zwischen schlechter und besser qualifizierten und bezahlten Stellen oder nach Geschlecht unterschieden) via "Vitamin B" besetzt wird (http://www.spiegel.de/karriere/stellenbesetzung-ein-drittel-ueber-vitamin-b-a-1163956.html).
Zu den systematischen Nachteilen für Männer:
Hier will ich nur kurz was sagen, denn das ist der alte neuralgische Punkt, in dem ich mit dem Autor uneins bin und bei ihm Ideologie sehe anstatt objektiver Erkenntnissuche, da werden wir uns wahrscheinlich am allerwenigsten jemals einig.
Da wird eine Art Dreieck aufgespannt zwischen gesellschaftsstrukturellen Nachteilen für Frauen, gesellschaftsstrukturellen Nachteilen für Männer und gesellschaftsstrukturellen Nachteilen aufgrund geschlechtsunabhäniger, sozialer Merkmale – nicht zu Unrecht genannt werden hier "Bildungsniveau, Wohlstandsniveau, Arbeitslosigkeit, Herkunftsland, Wohnumgebung (etwa: Land vs. Stadt), Beziehungsstatus oder Elternschaft (etwa: allein- vs. gemeinsam erziehend)".
Keine Frage, dass es alle drei gibt. Die Fragen, die sich der Autor jedoch nicht stellt, sind diese:
* Macht die Existenz struktureller Nachteile für den Mann bestehende strukturelle Nachteile für die Frau in irgendeiner Form insignifikant, verringert sie in irgendeiner Form eine womöglich festzustellende Notwendigkeit ihrer Behebung, Linderung oder Kompensation? Gilt selbstverständlich auch umgekehrt. (Dass im Artikel ausgerechnet der Umstand, dass Männer mehr saufen als Frauen, als eine gesellschaftliche Benachteiligung des Mannes hin- und als solches Anstrengungen zur Linderung oder Kompensation gesellschaftlicher Benachteiligungen der Frau entgegengestellt wird, will ich jetzt mal nicht weiter kommentieren...)
* Könnte es nicht sein, dass manche Nachteile für den Mann (z.B. Wunsch nach nicht-karrieregefährdender Inanspruchnahme von Teilzeit oder Elternzeit) auf Ungleichgewichten beruhen, die woanders zu Lasten der Frau gehen (z.B. Gehalt – im Zweifel geht halt derjenige Elternteil in Teilzeit, der weniger verdient)?
* Macht die unzweifelhafte Existenz tendenziel nicht geschlechtsspezifischer, sozialer Benachteiligungen aufgrund der oben genannten Voraussetzungen (Bildungsniveau usw.) zusätzlich existierende Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts – sei es aufgrund des weiblichen oder aufgrund des männlichen – in irgendeiner Form weniger relevant oder weniger behebungs-, linderungs- oder kompensationswürdig?
* Und: Soll man nicht das eine auch schon lindern, wenn man es kann, bevor man einen Plan hat, wie man das andere in den Griff bekommt?
Zumal man bei der näheren Betrachtung aller hier auftauchenden Problemkategorien irgendwann nicht um die Frage herumkommt, welche davon überhaupt ohne grundlegende, weltweite Änderung des ökonomischen Betriebssystems nachhaltig in den Griff zu bekommen sein werden. Soll man die bestehenden Ungerechtigkeiten, eben auch was die Karrieremöglichkeiten der Frau angeht, bis dahin einfach bestehen lassen?
Zur Verhältnismäßigkeit der Kündigung:
Es sieht für mich so aus, als wäre Damores Dokument nicht durch ihn selbst an die außerbetriebliche Öffentlichkeit gelangt, insofern wird man ihm diesen Punkt nicht zur Last legen können. Die Frage ist daneben aber noch, inwieweit einerseits bestimmte Behauptungen, die sich auf die statistische Eignung von Frauen für Google-Jobs beziehen und diese mit biologischer Vorbestimmung in Verbindung bringen, plus andererseits Behauptungen, die sich zum Teil offensiv und pauschalisierend gegen politisch eher links eingestellte Menschen richten, geeignet sind, den Betriebsfrieden zu stören – etwas, was jedenfalls in Deutschland, sofern nicht in einem konkreten Unternehmen arbeitsvertraglich oder durch betriebliche Übung etwas anderes gilt, Anlass genug ist für eine Kündigung. Wobei ich im Falle eines Erstvergehens hier aber auch dafür plädiert hätte, zunächst nur eine Abmahnung auszusprechen.
(Diesen Beitrag verstehe ich auch als Zeichen, dass ich grundsätzlich – sofern ich die Ressourcen dafür erübrigen kann – durchaus auch bereit und in der Lage bin, dem Autor mehr als nur einen polemischen Kurzverriss an den Kopf zu werfen, was, soviel sehe ich schon auch ein, ja nicht unbedingt die Bereitschaft zur Beschäftigung mit der eigenen Meinung fördert.)
Cheers
d. d.