Sie vergleichen den industrialisierten Menschen mit Hefe. Was haben wir mit diesen Mikroorganismen gemeinsam?
Philipp Blom: Als Gesellschaften und Individuen sind wir zweifellos komplexer und aufregender als Hefepilze, wir hatten Platon, Marie Curie und Beethoven. Und doch verhalten wir uns als Spezies exakt wie Hefe, das heißt, wir fressen alles, was wir vorfinden, bis wir alle Ressourcen aufgebraucht haben und an den eigenen Ausscheidungen ersticken. Bei der Hefe genießen wir das Resultat des darauffolgenden Populationskollapses übrigens als Brot oder Wein.
Es gibt keine der menschlichen Spezies gemeinsame Kultur. Der Kapitalismus ist auch keine natürliche Notwendigkeit, sondern geht auf eine Kontingenz sozialer und historischer Ereignisse zurück, bei denen Zufall und Notwendigkeit verschränkt sind.
Wenn das unersättliche "Fressen", wie oben beschrieben, die menschliche Natur wäre, könnte das nirgendwo anders laufen. Einige Südseeinseln sind allerdings schon jetzt klimaneutral und produzieren kaum Müll.
Philipp Blom: Visionen können etwas Wunderschönes sein, sie können aber auch das mit Abstand Todbringendste sein. Interessanter wäre für mich ein wissenschaftlicher Zugang: Wir wissen sehr viel über die artgerechte Haltung jeder Tierart, die uns bisher untergekommen ist – außer Homo Sapiens. Weil wir uns so ungern selbst als Tierart verstehen.
Wir haben uns über Jahrhunderte damit beschäftigt, Gesellschaftssysteme zu entwerfen, die wir für ideal halten, und haben dann versucht, die Menschen diesem Ideal anzupassen – anstatt es umgekehrt anzugehen. Wir wissen im Grunde nicht, was wir als Tierart brauchen, um einigermaßen friedlich und solidarisch miteinander leben zu können. Auf Grundlage dieses Wissens sollten politische Zukunftsentwürfe aber gestaltet werden.
Das schlimmste, das Menschen bisher in der Geschichte getan haben, wurde nicht aufgrund von kulturellen Visionen getan, sondern deswegen, weil sich als regressive Gegenbewegung zum Liberalismus eine faschistische Kultur entwickelt hat, die meint zu wissen, was die natürliche Art und Weise sei, miteinander umzugehen. Dass die Idee, man würde Naturgesetze umsetzen, zur industriellen Menschenvernichtung geführt hat, sollte Blom aus dem Geschichtsunterricht wissen.
Politische Zukunftsentwürfe sollten auf materialistischen Kritiken wie der negativen Dialektik und der Dekonstruktion beruhen, die verstanden haben, dass die Subjektbildung hauptsächlich ein Effekt der gesellschaftlichen Produktionsweise ist und dass das Projekt der Aufklärung damit steht oder fällt, ob es gelingen kann, kulturelle Bewegungen in Gang zu setzen, die stark genug sind, um die gesellschaftliche Produktionsweise zu verändern.
"Das Sein schafft das Bewusstsein" sagte Marx und er entwickelte seine Lehre von der Revolution in dem Bewusstsein, dass es notwendig sei, dass eine Minderheit mit Gewalt die Produktionsweise ändert, damit das gesellschaftliche Bewusstsein dem folgt. Hoffen wir, dass er in diesem Punkt nicht recht behält und die Demokratie ein Ort der Aufklärung sein kann. Dazu muss aber der Diskurs weit nach links verschoben werden und Alternativen zum Kapitalismus müssen ergebnisoffen diskutiert werden können. Solange Liberale, Konservative und Rechtsaußen bei jedem Antikapitalismus das kommunistische Gespenst beschwören, nur, um es zu exorzieren, ist die "offene Gesellschaft" jedoch nicht mehr als Gesäusel im Wind.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (02.03.2021 06:13).