Kant hat sich mit seinem kategorischen Imperativ noch die Mühe gegeben, aus der Willensfreiheit selber Verpflichtung und notwendigen Willensinhalt abzuleiten: Die Freiheit des Willens nennt er „Autonomie" — Selbstgesetzgebung — und schließt falsch, dass die Betätigung dieser Willensfreiheit vernünftigerweise darin bestehen müsste, dass der Wille sie zur Gesetzgebung gegen sich selber benutzt: Befolgen soll der Mensch nur diejenige Maxime, die zugleich allgemeines Gesetz sein kann! Und das heißt eben: Will nur den Inhalt, der zugleich eine Pflicht sein kann.
Das Programm der Herleitung der frei gewollten Pflicht aus dem Begriff des Willens offenbart seinen rechtfertigenden Charakter vor allem darin, dass vom Willen zur Pflicht im allgemeinen, oder zur Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen nie mehr ein Weg zurück zu den bestimmten Pflichten führt, die gerade begründet werden sollten.
„Wenn alle lügen würden" — so ein von Kant gewähltes Beispiel für den angeblichen Selbstwiderspruch der unmoralischen Handlung — was wäre dann eigentlich? Wenn alle lügen — und übrigens: Tun sie es nicht? — dann herrscht Misstrauen und der Lügner muss sich Mühe geben. Ja und? (Übrigens sollte mit seinem Nutzen nicht argumentiert werden!) Ein Widerspruch ist die Lüge nur gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit — aber gerade das wollte Kant beweisen und nicht voraussetzen.
Es versteht sich, dass diese prinzipielle Äußerlichkeit von abstraktem Moralprinzip und den konkreten Pflichten und Tugenden auch für alle möglichen anderen Fassungen dieses Prinzips gelten: Wenn ich stets auch an das Wohl des anderen denken soll, was tut ihm am besten? Seinen Interessen immer nachzugeben? Oder lieber einmal Festigkeit, damit er sich nicht täuscht?
Zum Idealismus des aus dem Begriffshimmel gezauberten Moralprinzips gehört also der recht brutale Positivismus der Moralisten, die den Inhalt ihrer Gebote dann doch recht unverblümt aus dem Umkreis der Pflichten nehmen, die es eben so gibt! Von wegen Begründung aus dem Willen und seiner Vernunft!