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  • Holm Andree Jochmann

mehr als 1000 Beiträge seit 23.04.2018

Leid

Viel Leid entsteht durch soziale Ausgrenzung, das ist wohl so. In einer gesunden Gesellschaft würde jeder aufgenommen, wie er nun einmal ist.
Ich halte es für eine gute Entwicklung, dass die soziale Ausgrenzung nachlässt.
Es gibt aber auch ein Leid der Betroffenen unabhängig von der Ausgrenzung. Aus psychologischer Sicht halte ich es für bedenklich, wenn dieses Leid geleugnet wird.
"Psychosoziale" Faktoren spielen eine entscheidende Rolle beim Umgang mit dem biologischen Geschlecht.
Nach meiner Beobachtung gibt es zwei hauptsächliche Möglichkeiten, wieso jemand in Konflikt mit dem eigenrn biologischen Geschlecht kommt. Die eine ist: Das dominante Elternteil verachtet das andere Geschlecht oder aus anderen Gründen ist das eigene Geschlecht "verbrannte Erde". Man rettet sich zu den Guten und verleugnet, was man ist.
Die andere Möglichkeit: In der Familie fehlt jemand. Beispiel: Ein Mann und eine Frau verlieben sich. Sie machen einen Motorradausflug, es gibt einen Unfall. Die Frau stirbt. Der Mann kann den Verlust nicht verarbeiten, weil (er war der Fahrer) Schuldgefühle die Verarbeitung blockieren. Später findet er eine neue Frau. Die beiden haben einen Sohn. Dieser Junge reagiert im Heranwachsen auf die Signale beider Eltern. Der Vater wird sich immer (unbewusst) freuen, wenn der Kleine sich bewegt, spricht oder schaut wie die erste Frau. Winzige Impulse führen dazu, daß der Junge der ersten Frau des Vaters immer ähnlicher wird. Er hat nie von ihr gehört, hat sie nie gesehen und übernimmt doch Eigenschaften von ihr.
Dieser Vorgang nennt sich gegengeschlechtliche Identifikation.
Hätte es eine Tochter gegeben, wäre es für diese einfacher gewesen. Ein schweres Schicksal wäre es aber trotzdem. Einfach weil ein Teil der eigenen Identität aufgegeben wird um für etwas (jemanden) im eigenen Inneren Platz zu machen, was herrenlos im Familiensystem herum schwirrt.

Das ist LEID. Immer. Da hilft es nur nach Aussen, gegenüber der sozialen Ausgrenzung, zu sagen: das ist ganz normal, es gibt halt 1000 Geschlechter.
Nach innen hilft das nicht. Da macht es eher krank, das eigene Leid zu leugnen.
Ich weiß, ich bewege mich auf gefährlichem Boden. Es ist völlig in Ordnung, schwul, lesbisch oder geschlechtlich unorientiert zu sein. Aber oft ist das das Ergebnis einer leidvollen Entwicklung und hat irgendwie einen Preis. Dieser Preis sollte geachtet werden
und nicht ignoriert.

Mir bekannt ist zB. eine Frau mit Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser Syndrom. Dh., sie hat keine Gebärmutter und auch keine Vagina. Rein äußerlich ist an ihr alles weiblich. Ihre Mutter hatte einen kleinen Bruder, der ertrunken ist, als sie auf ihn aufpassen sollte. Meiner Meinung nach hat diese Frau so gut sie konnte versucht, keine Frau zu werden bzw. diesen Bruder zu ersetzen. Das sind Kräfte, die wirken offensichtlich schon im Mutterleib.
Natürlich ist sie "normal". Sie gehört dazu, sie hat alle Rechte wie alle anderen und sollte nicht blöd angeguckt werden. Und trotzdem gibt es ein Leid. Sie hat das Leid ihrer Mutter geteilt, wollte etwas gut machen und konnte es nicht.
Dieses Leid gehört geachtet und nicht verleugnet, es hat sie etwas gekostet.
Zum Beispiel wird sie nie Kinder haben können.
Ich halte Operationen, angleichend oder umwandelnd, auch Hormontherapien für eine schlechte Idee. Heilung hat immer etwas zu tun mit der Annahme dessen, was nun einmal ist. Das, was ich geworden bin ist am ehesten das, was ich bin. Hier liegt die größte mögliche Kongruenz. Daran herumzuschneiden macht es schlimmer. Viele, die es versucht haben, haben das erlebt.

Ich bin vollkommen einverstanden, dass der holländische Mensch, der sich nicht als Frau fühlt, sich in seinen Ausweis eintragen lassen kann, was er/sie will.
Aber ich bin auch der Meinung, sehr wahrscheinlich gäbe es die Möglichkeit, IHM zu helfen, mit dem was SIE nunmal ist, noch mehr in Frieden zu kommen.
Vor allem, zu erkennen: Da gibt es eine riesige Anstrengung, die mich schon mein Leben lang überfordert. Ich gebe die jetzt auf.

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