Ansicht umschalten
Avatar von chrygel
  • chrygel

455 Beiträge seit 05.09.2002

Die volle Wahrheit

Ich hatte kürzlich das Vergnügen, den Roman „Die volle Wahrheit“ von Terry Prattchet zu lesen. In dem Roman wurde gerade der Buchdruck und die Zeitung erfunden. Der Patrizier, der Hauptstadt Ank Morpok, begibt sich in die „Redaktion“ und es entsteht folgender Dialog:

»Bitte lasst euch nicht stören«, sagte Lord Vetinari von der Tür her. »Dies ist ein inoffizieller Besuch. Ihr stellt neue Leute ein, wie ich sehe.«

Der Patrizier kam näher, gefolgt von
Drumknott.

»Äh, ja«, bestätigte William. »Ist alles in Ordnung mit dir, Herr?«

»Oh, ja. Natürlich habe ich viel zu tun. So muss ich zum Beispiel eine ganze Menge lesen. Aber ich hielt es für angebracht, hierher zu kommen und mir die ›freie Presse‹ anzusehen, von der mir Kommandeur Mumm sehr ausführlich berichtet hat.« Mit dem Gehstock klopfte er an eine der eisernen Säulen der Presse.

»Allerdings scheint sie fest mit dem Boden verbunden zu sein.«

»Äh, nein, Herr«, sagte William. »Frei« ist das, was gedruckt wird.«

»Bedeutet das, niemand muss dafür bezahlen?«

»Ah, nein, aber …«

»Oh, ich verstehe. Du meinst, du solltest frei sein und all das drucken dürfen, was dir gefällt.«

William saß in der Falle. »Nun im Großen und Ganzen, Herr.«

»Weil es im ... Wie heißt der interessante Ausdruck? Weil es im öffentlichen Interesse liegt?«

Lord Vetinari griff nach einer Drucktype und untersuchte sie sorgfältig.

»Ich denke schon, Herr.«

»Meinst du die Geschichten über Menschen fressende Goldfische und irgendwelche Ehemänner, die von großen silbernen Scheiben entführt werden?«

»Nein, Herr. Das sind die Dinge, an denen die Öffentlichkeit interessiert ist. Wir kümmern uns um den anderen Kram, Herr.«

»Um komisch geformtes Gemüse?«

»Nun, manchmal, Herr. Sacharissa meint, solche Geschichten treffen das menschliche Interesse.«

»Geschichten über Gemüse und Tiere?«

»Ja, Herr. Aber wenigstens betreffen sie echtes Gemüse und echte Tiere.«

»Nun, wir haben also Dinge, an denen die Leute interessiert sind, und Geschichten, die das menschliche Interesse treffen. Hinzu kommt das öffentliche Interesse, an dem niemand Interesse zeigt.«

»Abgesehen von der Öffentlichkeit, Herr«, warf William ein und versuchte, nicht den Überblick zu verlieren.

»Was nicht das Gleiche bedeutet wie Leute und Menschen?«

»Ich glaube, es ist ein wenig komplizierter,
Herr.«

»Offenbar. Glaubst du, die Öffentlichkeit unterscheidet sich von den Leuten, die du draußen siehst? Die Öffentlichkeit denkt große, vernünftige Gedanken, während die Leute herumlaufen und Dummes anstellen?«

»Ich glaube ja. Vielleicht sollte ich noch etwas gründlicher über diese Vorstellung nachdenken, Herr.«

»Hmm. Interessant. Mir ist aufgefallen, dass Gruppen intelligenter und vernünftiger Leute auf sehr dumme Ideen kommen können«, sagte Lord Vetinari. Er warf William einen Blick zu, der ihm mitteilte: »Ich kann deine Gedanken lesen, selbst das Kleingedruckte.« Dann sah er sich im Druckraum um. »Zweifellos hast du eine ereignisreiche Zukunft vor dir, und ich möchte sie dir nicht schwerer machen, als sie es ganz offensichtlich sein wird. Nun, wie ich sehe, habt ihr zu tun .«

(...)

»Als Gegenleistung möchte ich dich bitten,
Kommandeur Mumm nicht zu verärgern«, sagte der Patrizier. »Beziehungsweise nicht mehr als unbedingt erforderlich.«

»Ich bin sicher, wir können an einem Strang ziehen.«

Lord Vetinari hob erneut die Brauen. »Oh, ich hoffe nicht, nein, wirklich nicht. An einem Strang ziehen - das ist das Ziel von Despotie und Tyrannei. Freie Menschen ziehen in unterschiedliche Richtungen.« Er lächelte. »Nur so lässt sich Fortschritt erzielen. Und man muss natürlich mit der
Zeit gehen. Um nicht zu sagen: mit der Times. Ich wünsche euch einen guten Tag.«

(…)

»Hältst du das wirklich für wahr?«, fragte er. Sacharissa zuckte mit den Schultern.

»Ob ich es wirklich für wahr halte? Wer weiß? Dies ist eine Zeitung. Es braucht nur bis morgen wahr zu sein.«

William glaubte zu spüren, wie es wärmer wurde. Sacharissas Lächeln war sehr attraktiv. »Bist du.. sicher?«

»Oh, ja. Wahr bis morgen - das genügt mir.«

Und hinter ihr wartete der große schwarze
Vampir der Druckerpresse darauf, gefüttert zu werden. In finsterer Nacht wollte sie zum Leben erweckt werden, für das Licht des Morgens. Sie zerhackte die Komplexitäten der Welt in kleine
Geschichten, und sie war immer hungrig.
Und sie brauchte einen zweispaltigen Artikel für die zweite Seite, erinnerte sich William.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (08.03.2023 12:02).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten