Jens Niestroj schrieb am 27.04.2024 20:47:
Die untermauernde Ideologie behauptet, dass die egoistischen Motive der Einzelnen durch die unsichtbare Hand des Marktes letztlich gut für die Gemeinschaft seien. Schließlich fiele auch für die weniger leistungsfähigen durch das egoistische Handeln der Leistungsträger (welch ein Wort...) so viel ab, dass ein in der Geschichte beispielloser Wohlstand für alle folge.
Das ist die untermauernde Ideologie des Neoliberalismus, nicht die des Kapitalismus. Der Kapitalismus basiert auf gar keiner Ideologie, sondern er geht auf zufällige historische Entwicklungen zurück. "Der Mensch macht seine Geschichte selbst", meinte Marx, "aber er macht sie nicht aus freien Stücken". Als die ersten Textilfabrikanten gegen Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Idee kamen, Webstühle zu mechanisieren, wussten sie jedenfalls nicht, was sie damit in Gang setzen. Sie hatten einfach nach einer Lösung gesucht, um die relativ hohen Löhne in England zu umgehen. Und erst hundert Jahre später wurde dieses System weitgehend zutreffend beschrieben - von Karl Marx...
Seither hat sich der Kapitalismus von unterschiedlichen Seiten gezeigt: Er trat als Ausbeutungsmaschine in Erscheinung, erzeugte Massenwohlstand, er schuf globale Konzerne und konzentrierte die Wirtschaft, ruinierte die Umwelt und ermöglichte die Demokratie genauso wie den "militärisch-industriellen Komplex" der USA. Die Frage ist nun: Welche Phänomene sind systemimmanent (nicht änderbar), welche sind politisch steuerbar?
Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen, in denen sich der Kapitalismus während seiner 250jährigen Geschichte gezeigt hat, scheint mir erstaunlich viel steuerbar zu sein. Der Kapitalismus selbst zwingt jedenfalls keine Regierung dazu, den Spitzensteuersatz von 53% auf 42% zu senken, die Erbschaftssteuer zahnlos zu machen, Arbeitslose zu schikanieren und die Löhne zu drücken. Nein, das war das große Ding von Schröder, und die Gesellschaft fand das mehrheitlich in Ordnung.
Systemimmanent ist jedoch der Zwang zum Wachstum: Nimmt man die Dynamik aus dem System, dann kracht es brutal zusammen. Notfalls - bei akuter Krise, z.B. Corona - hält der Staat den Motor mit Hunderten von Milliarden am Laufen; denn er weiß: Kommt das Ding zum Stillstand, crasht es. Warum das so ist, steht in einem interessanten Buch von Mathias Binswanger ("Der Wachstumszwang").
Da es keinen Kapitalismus ohne Wachstum gibt und Wachstum nicht mehr geht (wenn wir auf diesem Planeten weiterhin leben wollen), ist mit dem Kapitalismus bald Schluss - so oder so. Das ist keine gute Nachricht, denn unterm Strich war der Kapitalismus ausgesprochen segensreich. Genau das ist auch der Grund dafür, warum wir uns mit dem Loslassen so schwer tun.