... verbrauchte dort meine ersten 21 Lebensjahre und bin mittlerweile seit knapp 20 Jahren draußen. Ich wurde sehr streng erzogen, da mein Vater viele Ämter in seinem Leben bekleidet hat (Ältester, Sonder-Pionier, etc) und uns, meinen Bruder und mich, zu Ältesten erziehen wollte.
Meine Erfahrung deckt sich nicht im Geringstem mit dem, was die Interviewte von sich gibt.
Ich greife hier mal paar Beispiele auf:
Gebet in jeden Lebenssituationen und zu jeder Zeit.
Ist total überzogen. Vor dem Essen sollte man beten und vor dem Schalfengehen. Das Letztere habe ich immer vergessen. Ich kenne niemanden, der "zu jeder Zeit", also auch z.B. in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, gebetet hatte, weil er da nichts anderes zu tun hatte. Das ist doch totaler Bullshit. Wie soll man sich das denn vorstellen? ZJ, die im Wartezimmer sitzen beten alle im Geiste vor sich hin, oder wie? Hää? Hey, ich fahre gerade durch eine Waschstraße, ich muss jetzt beten. Oh, die Ampel ist gerade rot, ich muss beten. Ich warte auf dem Bus, ich muss beten. Mich langweilt der heutige Film im Fernsehen, ich muss beten. Jaaa, nee ist klar.
Studium aller Publikationen.
Auch das ist kompletter Bullshit. Die weiß wohl nicht, wie viele Publikationen die ZJ haben. Ich habe damals alte Bücher der ZJ gesammelt. Es ist unmöglich alles zu lesen, geschweige denn durch zu studieren. Bei uns galt: vorbereite dich auf die Versammlung vor. Heißt, Samstags den Wachturmartikel durchlesen, der am Sonntag behandelt wird und Dienstags die jeweiligen Buchabschnitte durchlesen, die abends in der kleinen Versammlung dran waren.
Ich kann mich nicht erinnern je Erwachet einmal vollständig durchgelesen zu haben. Wachturm auch nicht, geschweige denn die Bücher. Man hat den Wachturm + Erwachet bekommen, hats durchgeblättert und das, was man für interessant hielt, das hat man sich halt durchgelesen. Das war's.
Ja, die Bibel ist schon ein dickes Buch, aber so dick nun auch mal wieder nicht. Nach paar Jahren hat man das alles irgendwann im Kopf. Es wiederholte sich alles nur halt in anderen Worten. Wenn man es einmal drin hatte, musste nicht alles lesen um mitreden zu können. Zumal es ja dreimal die Woche Versammlungen gab, in denen man alles ohnehin ständig durchgekaut bekommen hat.
Teilnahmepflicht an den drei Mal wöchentlich stattfindenden Ortsversammlungen sowie der drei jährlichen Kongresse.
"Pflicht", da kann ich auch nur lachen. Man wurde ermutert die Versammlungen zu besuchen. Eine "Pflicht" war es aber nicht. Wenn man länger die Versammlung nicht besuchte, wurde natürlich nachgefragt was los ist. Es gab auch "Verkündiger" (getaufte ZJ), die kamen regelmäßig unregelmäßig zu den Versammlungen. Die galten als "schwach in Glauben". Die hatten dann halt keine Vorrechte bekommen, sprich Ämter. Ärger gabs dafür aber keinen. Auch den ZJ war bewusst, daß wo viele Menschen zusammenkommen, gibt es immer solche und solche.
Predigtdienst, dh. Missionieren bei jeder Gelegenheit.
Schon wieder komplett überzogen formuliert: "bei jeder Gelegenheit". Als hätte man in Leben nichts anderes zu tun, als "berufs Zeuge Jehovas" zu sein. Ich hatte mich damals einmal die Woche - alle zwei Wochen, am Wochenende zum Predigen für eine bis anderthalb Stunden verabredet und gut wars. Wichtig war nur, daß man mindestens einmal im Monat gepredigt hatte, sonst -> schwach im Glauben.
Alle Kontakte außerhalb der Gemeinschaft, sowohl zu der eigenen Familie, Freunden, als auch Arbeitskollegen, sind massiv einzuschränken.
Ach komm Fräulein, warst du wirklich bei den ZJ oder doch bei einer anderen Sekte? Ich hatte auch viele Freunde in der "Welt" (Nicht-ZJ). Wir gingen zusammen ins Kino, wir haben uns zu kleinen Lan-Patrys getroffen, wo wir (damals in den 90ern) Quake und Unreal gezocken haben und unternahmen andere Dinge, die Jugendliche damals halt so machten. War alles kein Problem. Ok, ok, Freundin durfte ich nicht haben - war ein Spätzünder. Jetzt ist es raus. ;)
Es ist auch nicht erwünscht, außerhalb der Gemeinschaft zu heiraten, es ist aber möglich.
Auch das kenne ich anders. "Heiraten nur im Herrn". Meine Cousine hatte einen nicht ZJ geheiratet und wurde ausgeschlossen... verkehrte Welten.
Eigentlich wollte ich nur paar Worte schreiben, jetzt wurde das doch so lang. Und ich könnte noch lange so weiter machen... ach kommt, einen habe ich noch:
Der ganze Schwindel besteht darin, dass das Versprechen vom Paradies natürlich eine große Lüge ist, genauso wie das Gericht Gottes Harmagedon, wodurch alle ZJ ständig in Angst und Schrecken gehalten werden. Ich kam erst später dahinter, dass ich nie sicher sein konnte "gerettet" zu werden, da ich ja dann doch zu viele "Fehler" gemacht habe in meinem Leben, und dann doch vernichtet werde aufgrund dessen. Das ist die Angst, die den ZJ durch die Gehirnwäsche eingeimpft wird, so werden sie gefügig gemacht, denn alle streben danach, dereinst ins Paradies zu kommen.
Also mir wurde damals eingetrichtert, daß Gott barmherzig ist und Sündern vergibt. Welche Angst? Ich hatte in all den Jahren keine Angst vor Fehlern. Sie sagt ja selbst, daß man bereuen kann. Passt irgendwie nicht zusammen, oder? Wenn mantramäßig wiederholt wird, daß Gott "allmächtig und allwissend ist und in unsere Herzen schauen kann", warum Angst vor Fehlern haben, wenn er sieht, daß es Fehler waren und man nicht umgedreht wurde. Und wenn man umgedreht wurde, ja dann kann das alles einen auch am Arsch vorbeigehen. Das ergibt doch keinen Sinn.
Vielleicht ist bei mir vieles anders gewesen, da ich hineingeboren wurde und das alles quasi im Blut hatte, also von Anfang gelernt habe, was ich mir erlauben darf und was nicht. Mag sein, daß diejenigen, die den ganzen Umfang nicht kennen, anders reagieren und unsicherer und vorsichtiger sind. Aber selbst das erklärt nicht, warum sie vieles dermaßen überzogen schildert, daß ich mich nach 20 Jahren totaler Abstinenz von den ZJ genötigt fühle, diesen Beitrag zu schreiben.